Lehrer entsetzt Rückkehr zu Präsenz-Unterricht
Im Saarland tobt ein Streit über die Rückkehr zum Präsenz-Unterricht mitten im Lockdown. Lehrerverbände stehen Elternvertretern und der Ministerin gegenüber.
Viele Lehrerinnen und Lehrer im Saarland haben am Donnerstag entsetzt und besorgt auf die Ankündigung der Kultusministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) reagiert, den Präsenz-Unterricht für rund 8000 Schülerinnen und Schüler in den Abschlussklassen ab kommenden Montag stufenweise wieder anlaufen zu lassen. „Keine 24 Stunden nachdem die Bundeskanzlerin zur Vorsicht gemahnt, auf die Gefährlichkeit der aus Großbritannien stammenden neuen Mutation des Corona-Virus hingewiesen und deshalb die schärfsten Kontaktbeschränkungen seit Frühjahr verkündet hat, ordnet Streichert-Clivot an, Schulen wieder zu öffnen. Ausgerechnet ab dem Tag, an dem private Treffen nur noch mit einer weiteren Person, die nicht zum eigenen Hausstand gehört, möglich sein werden, schließt die Bildungsministerin die Schulen für tausende Schüler der 12. bzw. 13. Klasse auf“, erklärte die Vorsitzende des Verbandes Reale Bildung (VRB) im Deutschen Beamtenbund, Karen Claassen. Claassen berichtete, dass sie Nachrichten von Schülerinnen und Schülern sowie Kolleginnen und Kollegen erreichten, die „entsetzt und fassungslos“auf die neuesten Pläne aus dem Saar-Bildungsministerium reagierten. Die Pläne von Streichert-Clivot bedeuteten laut Claassen, die Biologie und Chemie an der Gemeinschaftsschule Bruchwiese in Saarbrücken unterrichtet, dass sich ab übernächster Woche an den Gemeinschafts- und Berufsschulen wieder Haushalte im dreistelligen Bereich treffen müssten. „Die Aufforderungen zur Kontaktreduzierung werden so Makulatur“, betonte Claassen. Dies sei umso dramatischer, als dass die nun zurückkehrenden Schüler aufgrund ihres Alters laut Virologen und Epidemiologen im Infektionsfall eine Virenlast wie Erwachsene aufwiesen. Claassen forderte Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) auf, die Präsenz-Unterrichtspläne von Streichert-Clivot zu stoppen.
Auch der mitgliederstärkste Saarländische Lehrerinnen- und Lehrerverband (SLLV) äußerte sich sehr besorgt über die Rückkehr zum Präsenz-Unterricht für die Abiturienten ab kommenden Montag und die Schüler mit mittlerem und Hauptschulabschluss ab 18. Januar. „Der SLLV hält das gerade auch im Hinblick auf die in der Kanzlerschalte vom 5. Januar vereinbarten Verschärfungen der Kontaktverbote für nicht verantwortbar“, erklärte SLLV-Chefin Lisa Brausch. Es könne nicht sein, dass Unterricht erfolgt, in dem die vom Robert-Koch-Institut empfohlenen Regeln nicht eingehalten werden können. „Dies ist zum jetzigen Zeitpunkt – gerade auch in Bezug auf die vermutete höhere Ansteckungsgefahr der mutierten Virusvariante – fahrlässig“, betonte Grundschullehrerin Brausch. Auch Marcus Hahn, Chef des Saarländischen Philologenverbands (SPhV), fragte sich, wie der Arbeits- und Infektionsschutz im Unterricht sichergestellt werden solle. „Wenn jetzt in Kursen der Klassenstufe 12 teilweise mehr als 20 quasi erwachsene Personen in einem Raum sitzen, ist der Infektions- und Arbeitsschutz ein wunder Punkt“, sagte Hahn.
Auch die Vorsitzenden der beiden Berufsschullehrerverbände im DBB, Pascal Koch (VLW) und Bernd Haupenthal (VLBS), lehnten einen Präsenz-Unterricht
ab Montag ab. „Eine stufenweise Öffnung der Schulen sollte erst erfolgen, wenn die Einschränkungen des öffentlichen Lebens wegen deutlich sinkender Inzidenzen wieder gelockert werden“, sagte Haupenthal.
Dagegen betonte der Sprecher der Gesamtlandeselternvertretung Jochen Schumacher das Recht der Schülerinnen und Schüler auf Bildung. „Der Alarmismus der Vorsitzenden der Lehrerverbände geht mir gegen den Strich“, sagte Schumacher der SZ. Die Gesamtlandeselternvertretung vertraue auf die Expertise von Professor Arne Simon, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Pädiatrische Hämatologie und Onkologie und klinische Infektiologe am Uniklinikum Homburg, der sage, dass Kleinkinder und Schüler keine
Pandemie-Treiber seien. Auch die Verlängerung der Tage für den Bezug des Kinderkrankengeldes in Höhe von 67 Prozent des Gehaltes bringe Eltern im Niedriglohnsektors in Bedrängnis, wenn sie wegen der Schulschließungen zur Kinderbetreuung zu Hause bleiben müssten. Wichtig sei derzeit die Frage, wie der Unterricht, der 2020 ausgefallen sei, nachgeholt werden könne. „Die, die den Abschluss machen, brauchen eine solide Grundbildung“, sagte Schumacher. Schließlich werde später bei den Bewerbungen nicht berücksichtigt, unter welchen Bedingungen die Schüler der Corona-Jahrgänge ihre Abschlüsse machen mussten.
Streichert-Clivot kritisierte unterrdessen die Beschlüsse Merkels und der Ministerpräsidenten, die den Stufenplan der Kultusminister-Konferenz
für dieWiederaufnahme des Präsenz-Unterrichts nicht berücksichtigt hätten. „Teilweise oder vollständige Kita- und Schulschließungen oder Einschränkungen des Zugangs über einen längeren Zeitraum haben sehr negative Folgen für Kinder, Jugendliche und auch Familien“, betonte die Gersheimerin. Das betreffe den Bildungserfolg, die Bildungsgerechtigkeit und die Zukunftsperspektiven von Kindern und Jugendlichen. Auch häusliche Gewalt sei ein Thema. „Die Wiederaufnahme des Unterrichts vor Ort an unseren Schulen muss jetzt, neben der eigentlichen Pandemiebewältigung, die höchste gesellschaftliche Priorität haben“, erklärte die Ministerin. Eine „Generation Corona“dürfe es nicht geben.
Die bestehenden Angebote an den Schulen für Schülerinnen und Schüler
mit Nachmittagsbetreuung würden fortgeführt. Diese Präsenz-Angebote stünden an Grundschulen und weiterführenden Schulen bis Klasse 6 offen, wenn die Kinder nicht anderweitig betreut werden könnten. Und für alle Schülerinnen und Schüler, die über kein geeignetes Lernumfeld für das digital gestützte Lernen zuhause verfügten.
Gleichzeitig erstickte Streichert-Clivot eine beginnende Debatte um die Streichung der Fastnachtsferien (15. bis 19. Februar) im Keim. Es gebe derzeit keine Planungen, die Winterferien zu verschieben oder zu streichen. Eine Verschiebung von Ferien sei wegen aufgebrauchter Urlaubstage und Überstundenkonten besonders Familien mit betreuungsbedürftigen Kindern nicht zuzumuten, betonte die Kultusministerin.
„Die Aufforderungen zur Kontaktreduzierung werden so Makulatur.“Karen Claassen Vorsitzende des Verbands Reale Bildung (VRB)