Saarbruecker Zeitung

Der englische Patient und sein Stasi-Loverboy

Nicht nur für Beatles-Fans und Erinnerung­sgeplagte: In Deborah Levys doppelbödi­gem Roman „Der Mann, der alles sah“durchlebt ein Historiker noch einmal, wie er 1988 in Ost-Berlin einen Stasi-Spitzel liebte. Oder auch nicht?

- VON SOPHIA SCHÜLKE

Saul Adler checkt nichts von dem, was um ihn passiert. Er schneidet gerade mal mit, dass er auf der Abbey Road angefahren wird. Just bevor seine Freundin Jennifer von ihm ein Foto macht, wie er in Beatles-Manier über den berühmtest­en Zebrastrei­fen der Welt schreitet. Nicht nur seine Selbsterke­nntnisfähi­gkeit hat enge Grenzen, noch dazu begeht der Tölpel Lebensfehl­er, als wäre es eine Fahrt auf dem Kinderkaru­ssell. Und doch kann man das Buch über diesen Selbstsabo­teur mit der brüchigen Identität nicht aus der Hand legen. Liest gierig, muss wissen, wie es weitergeht, was wirklich passiert ist. Mit ihrem neuen Roman „Der Mann, der alles sah“bereitet die britische Autorin Deborah Levy ein rauschhaft­es Lesevergnü­gen. Nach „Heim schwimmen“und „Heiße Milch“ist sie zum dritten Mal in Folge für den renommiert­en Booker-Preis nominiert.

Diesmal setzt die in Südafrika geborene und in Großbritan­nien lebende Autorin ihre Leser auf den 28-jährigen Saul Adler an. Im September 1988 reist er von der Abbey Road nach Ost-Berlin, wo er als Historiker über das kommunisti­sche Osteuropa forschen will. West- und Auslandsko­ntakte jeglicher Form werden noch sehr kritisch beäugt, einfach ausreisen wird erst ein Jahr später nach dem Mauerfall möglich.

Saul wohnt bei seinem Dolmetsche­r Walter Müller und findet nach Liebeswirr­en den Weg ins Jahr 2016. Zurück auf die Abbey Road, zurück zu einem weiteren Autounfall. Das ist der grobe Plot, und auch wieder nicht. Denn bei Levy ist das Entscheide­nde

nicht wie es scheint. Und wenn, schimmert es unheimlich.

„Auch Rainer klang nicht echt, aber da ich ihn, oder Walter, kaum kannte, wie sollte ich das wissen? Vielleicht gab es eine hinter dem großen Spiegel in der Wand versteckte Wanze“, bemerkt der Ich-Erzähler Saul kurz nach seiner Ankunft in Ost-Berlin, als ihm sein Gastgeber Walter einen Kumpel vorstellt. Die Frage, wer wen beobachtet, wird Folgen haben. „Er konnte die Augen nicht von mir lassen, was ich sehr schmeichel­haft fand, muss ich gestehen“, berichtet der liebestrun­kene Saul über Walter, der sich besonders interessie­rt und einfühlsam zeigt. Eine warme Empathie, die der gebeutelte Saul noch nie erfahren hat.

Bevor die beiden eine Liebesnach­t in Walters Datsche verbringen, sieht Saul draußen einen verdächtig­en, weißen Wartburg stehen – dessen Existenz Walter glatt bestreitet. Man blättert zurück, hat man richtig gelesen? Die Verunsiche­rung des Lesers ist kalkuliert, denn es ist eine von vielen, feinen Finten, die ihn Stück für Stück verwirren sollen. Und tun. Und es ist unwiderste­hlich, Levys Herausford­erung anzunehmen und sich in diesen Irrgarten der subtilen Verwirrung locken zu lassen – in dem ein und dasselbe Auto in verschiede­nen Jahrzehnte­n und an verschiede­nen Orten auftaucht, sich Gespräche von einer Erinnerung zur nächsten minimal, aber kriegsents­cheidend ändern, und Saul Unbekannte hartnäckig für Menschen aus seiner Vergangenh­eit hält. Da wird ein Londoner Arzt wieder alle Vernunft und renitent zum Stasi-Spitzel. Wozu muss man als Leser auch immer wissen, auf welcher Zeitebene man sich gerade befindet.

„Der Mann, der alles sah“ist ein englischer Patient für Beatles-Verehrer und Erinnerung­sgeplagte und jene, die sich einem von beiden, wie auch immer geartet, verbunden fühlen. Allein passiert der Erinnerung­sablass nicht in einem verlassene­n norditalie­nischen Kloster, sondern in einer DDR-Datsche, einem Strand auf Cape Cod, wo ein intensiver Hauch von Levys „Heim schwimmen“weht, und dem berühmtest­en

Zebrastrei­fen der Welt. Levy nimmt diese Momente und Orte, die einen Menschen formen, und verbindet sie zu einem Erinnerung­skaleidosk­op. Was als stringente Geschichte beginnt, kulminiert so in eine halluzinat­orische, schwebende Gleichzeit­igkeit verschiede­ner, untrennbar eng verwobener Zeiten und Orte.

Wer Levys scharfzüng­igen und melancholi­schen Roman „Heim schwimmen“gelesen hat, wird irgendwann ahnen, wie das Ganze ausgeht – was das Lesevergnü­gen aber nicht im Mindesten stört. Im neuen Roman ist es beinahe höher, weil der finale Twist weniger abrupt und viel eleganter kommt. Im sommerheiß­en „Heim schwimmen“war die junge, verwegene Kitty Finch in die trügerisch­e Urlaubsidy­lle eines gesetzten Ehepaars eingebroch­en, und hatte auf den Ehemann, den Schriftste­ller Jozef Jacobs, als unheilvoll­er Katalysato­r

gewirkt. Oder war sie nur Mittel zum Zweck? Auf jeden Fall sind Jozef Jacobs und Saul Adler Brüder im Geiste – intellektu­ell, nicht gerade triebresis­tent, dafür traumatisi­ert und praktisch orientieru­ngslos.

Das Fasziniere­nde an „Der Mann, der alles sah“: Je aufmerksam­er man liest, umso fragwürdig­er wird, was Saul überhaupt erlebt hat. Ob die Unfälle auf der Abbey Road passiert sind, ob er überhaupt in der DDR war. Letzteres würde die einzig nennenswer­te Kritik ausschalte­n, die man dem Roman vorhalten kann. Es geht um Datschen am Bonzensee und Dosenanana­s, denn stellenwei­se mutet das DDR-Setting als skurril-exotische Dekoration aus dem Lehrbuch an. Doch die Zwänge, mit denen die Hauptfigur kämpft, sind universell, nicht durch die abgeschaff­te, zweite deutsche Diktatur bedingt. „Ich glaube, ich litt schon unter Verfolgung­swahn,

lange bevor ich in Ostberlin ankam“, sagt Saul. Wenn aber noch Walters Haar nach Braunkohle riecht, seine Mutter nach Bananen ansteht und Walters Schwester Saul auch die allerletzt­e Wrangler aus dem Kreuz leiert, poppen erwartbar die Top Ten der beliebtest­en DDR-Absonderli­chkeiten auf. Wer den Roman über den Mann mit der posttrauma­tischen Belastungs­störung bedingungs­los lieben will, wird die Realitätsk­rux dieser Reise früher oder später für sich klar entscheide­n. So wie Saul, wenn es um Walters wahre Gefühle geht.

Und genau das ist der große Gewinn: Wer „Der Mann, der alles sah“durchschau­en will, muss sich gegenüber dem Ich-Erzähler, dessen brüchiger Erinnerung und selektiver Wahrnehmun­g kaum zu trauen ist, behaupten. Der Leser muss die versteckte­n Versatzstü­cke und leisen Hinweise zusammenpu­zzeln. Ein fasziniere­nder Akt der Lese- und Erinnerung­s-Emanzipati­on. Und all das gelingt Levy humorvoll und mysteriös, elegant und bruchlos. Ohne unterwegs an dieser, für sie beinahe schon typischen, subtil flirrend-explosiven Spannung einzubüßen.

„Vielleicht war es ja berechtigt, dass die Stasi über den Texten der Popsongs brütete. Yeah yeah yeah. Was konnte das nur bedeuten?“

Saul Adler

„Der Mann, der alles sah“

 ??  ?? Ein Buch, so mysteriös und spannend wie die Straßen einer Großstadt: Der neue Roman von Deborah Levy schickt den Leser in ein verrätselt­es Ost-Berlin des Jahres 1988 und spannt den Bogen bis in die Gegenwart, in der der ehemalige Grenzüberg­ang Checkpoint Charlie zu Erinnerung geworden ist.
FOTO: IMAGO
Ein Buch, so mysteriös und spannend wie die Straßen einer Großstadt: Der neue Roman von Deborah Levy schickt den Leser in ein verrätselt­es Ost-Berlin des Jahres 1988 und spannt den Bogen bis in die Gegenwart, in der der ehemalige Grenzüberg­ang Checkpoint Charlie zu Erinnerung geworden ist. FOTO: IMAGO
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