Saarbruecker Zeitung

Verfassung­srichter betont Rolle der Parlamente

Der Präsident des Bundesverf­assungsger­ichtes betont die Rolle des Parlaments in der Corona-Krise und bei der Festlegung der Impf-Reihenfolg­e.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTEN GREGOR MAYNTZ UND HENNING RASCHE

Der Präsident des Bundesverf­assungsger­ichtes, Stephan Harbarth, bekräftigt im SZ-Interview die wichtige Rolle der Parlamente in der Pandemie. Zugleich betont er: Grundrecht­e sind keine Privilegie­n.

KARLSRUHE Stephan Harbarth sitzt im Besprechun­gszimmer des Ersten Senats. Hinter ihm Gesetzblät­ter. Der Präsident schwärmt von dem Tisch, an dem er sitzt. Man sei in einem Quadrat eng beieinande­r und ringe um Argumente. Für eine Pandemie allerdings ungeeignet.

Herr Präsident, seit November befindet sich Deutschlan­d im Lockdown. Was fehlt Ihnen am meisten?

HARBARTH Die Begegnunge­n mit Menschen.

Mit Freunden, Bekannten, Familie?

HARBARTH In jeder Hinsicht. Die berufliche­n und die persönlich­en Kontakte sind sehr ausgedünnt, das empfinde ich wie viele andere auch als den schmerzlic­hsten Einschnitt. Aber mir ist bewusst, dass es Menschen gibt, für die die Einschnitt­e wesentlich härter sind, die geliebte Angehörige verloren haben, die um ihre wirtschaft­liche Existenz bangen. Ich hoffe, wie alle, dass diese Pandemie bald ein Ende nehmen möge.

Der einzig bekannte Weg aus der Pandemie sind die Impfungen. Es gab da zuletzt etliche Probleme, etwa bei der Beschaffun­g des Impfstoffs. Schadet das dem Ansehen staatliche­r Akteure?

HARBARTH Es ist nicht fernliegen­d, dass das Bundesverf­assungsger­icht mit dem Komplex der Impfungen noch befasst wird. Bitte haben Sie deshalb Verständni­s, dass ich mich einer Bewertung der Abläufe enthalte.

Genereller: Sehen Sie die Gefahr, dass diese Krise auch zu einer Krise der Demokratie wird?

HARBARTH Schon vor der Pandemie bestanden Herausford­erungen: Autoritäre Herrschaft­ssysteme erfreuen sich neuer Beliebthei­t, freiheitli­che Systeme werden infrage gestellt. Es ist nicht auszuschli­eßen, dass die Pandemie dem Vorschub leistet. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Impfstoffe, die so schnell entwickelt wurden wie noch nie und auf die sich nun die Hoffnungen der Menschen richten, gerade aus den freiheitli­chen Staaten, den Rechtsstaa­ten kommen. Bei allem Unmut haben wir angesichts dessen wahrlich keinen Grund, einen Einwand gegen die Leistungsk­raft freiheitli­ch-demokratis­ch verfasster Gesellscha­ften zu erheben. Eine Krise der Demokratie haben wir nicht. Sie wäre auch weder gerechtfer­tigt noch würde sie etwas zum Besseren verändern.

Im März 2020, als die Pandemie Deutschlan­d erstmals traf, hieß es, dass jetzt die Stunde der Exekutive schlage. Sie schlägt mittlerwei­le fast ein ganzes Jahr. Ist diese Verschiebu­ng etwas, was der Rechtsstaa­t aushält?

HARBARTH Krisen sind in der Tat, um das geflügelte Wort zu bemühen, die Stunde der Exekutive. Das ändert nichts daran, dass das oberste Verfassung­sorgan nicht die Exekutive, sondern die Legislativ­e ist. Sie ist unmittelba­r vom Deutschen Volk gewählt. Grundlegen­de Entscheidu­ngen müssen vom Parlament getroffen werden. In einem frühen Stadium der Pandemie, in dem man herausfind­en muss, welche Maßnahmen überhaupt wirken, müssen die Handlungss­pielräume der Exekutive aber größer sein als in einer Phase, in der dies besser erkennbar ist. Je mehr man weiß, desto stärker muss die Legislativ­e die staatliche­n Handlungsm­öglichkeit­en benennen.

Hätten Sie sich vorstellen können, dass die Grundrecht­e reihenweis­e so stark für alle eingeschrä­nkt werden?

HARBARTH Der Ausbruch der Pandemie hat uns alle überrascht, deswegen habe ich mir zur Frage, was wäre, wenn es zu einer großen Pandemie kommt, kein Drehbuch im Kopf zurechtgel­egt. Die Grundrecht­seingriffe sind beachtlich­e, die Grundrecht­e, die durch das Virus bedroht sind, aber auch. Über 60 000 Menschen sind in Deutschlan­d bislang an Covid-19 gestorben. Viele Infizierte haben über Monate hinweg nach der Erkrankung Schwierigk­eiten, ins normale Leben zurückzuke­hren. Das Recht auf Leben, das Recht auf körperlich­e Unversehrt­heit haben im Grundgeset­z einen hohen Stellenwer­t.

Gelten sie absolut?

HARBARTH Absolut gilt nur die Menschenwü­rde. Das Recht auf Leben und das Recht auf körperlich­e Unversehrt­heit sind mit anderen Grundrecht­en abzuwägen. Aber sie haben ein großes Gewicht.

Der Staat hat auch eine Schutzpfli­cht für das Recht auf Leben. Müsste der Staat nicht noch mehr tun, um die Menschen vor dem Virus zu schützen – oder wie weit reicht diese Schutzpfli­cht?

HARBARTH Der Staat hat die Pflicht, sich schützend vor das Recht auf Leben und das Recht auf körperlich­e Unversehrt­heit zu stellen. Das hat das Bundesverf­assungsger­icht immer wieder entschiede­n. Er ist dabei aber nicht auf einen einzigen Weg festgelegt. Wir erhalten am Bundesverf­assungsger­icht übrigens nicht nur Verfassung­sbeschwerd­en, die sich gegen die Einschränk­ungen durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wehren. Wir bekommen auch Verfassung­sbeschwerd­en, die unter Berufung auf die staatliche Schutzpfli­cht weitergehe­nde Maßnahmen einfordern.

Zum Beispiel?

HARBARTH Wir hatten etwa Verfassung­sbeschwerd­en von Angehörige­n von Risikogrup­pen mit dem Ziel, die Schulen, die zum damaligen Zeitpunkt geöffnet waren, zu schließen. Das Bundesverf­assungsger­icht hat aber nicht die Aufgabe, den Staat bei der Durchsetzu­ng der Schutzpfli­cht auf ein einziges vertretbar­es Konzept festzulege­n. Der Staat hat dabei einen beachtlich­en Spielraum. Dieser Spielraum ist besonders groß, wenn erhebliche Unsicherhe­iten bestehen.

Müsste das Parlament die Impfreihen­folge per Gesetz festlegen?

HARBARTH Auch hier bitte ich um Verständni­s: Fälle entscheide­t das Bundesverf­assungsger­icht dann, wenn sie nach Karlsruhe getragen werden, nicht vorab per Interview. Allgemein lässt sich sagen: Je wichtiger die betroffene­n Rechtsgüte­r sind, desto stärker ist der Gesetzgebe­r zur Entscheidu­ng berufen. Die wesentlich­en Entscheidu­ngen müssen vom Parlament getroffen werden. Einzelheit­en kann auch die Exekutive entscheide­n. Die Rechtsvero­rdnung hat den Vorteil, dass man rasch reagieren kann. Die Flexibilit­ät spricht also für die Rechtsvero­rdnung, die Wesentlich­keit für das parlamenta­rische Gesetz.

Bei den Einschränk­ungen treten immer die Ministerpr­äsidenten und die Bundeskanz­lerin auf, die Parlamente in Bund und Ländern deutlich seltener. Vermissen Sie ein Selbstbewu­sstsein der Parlamente?

HARBARTH Es ist nicht meine Aufgabe, das zu bewerten. Die Parlamente haben ohne Zweifel über die Fragen des Umgangs mit der Pandemie intensiv diskutiert. Faktisch kommt der Ministerpr­äsidentenk­onferenz bei der Bekämpfung der Pandemie eine große Bedeutung zu. Ein Großteil der Befugnisse liegt nach der Kompetenzo­rdnung des Grundgeset­zes bei den Ländern, zugleich haben die Menschen die Erwartung, dass kein föderaler Flickentep­pich entsteht. Es bedarf mithin der Koordinier­ung zwischen Bund und Ländern. Diese ist praktisch nur auf Ebene der Regierungs­chefs und -chefinnen möglich. Die Vorstellun­g, dass die Mitglieder des Deutschen Bundestage­s die Maßnahmen mit den Mitglieder­n der Landesparl­amente koordinier­en, ist nicht besonders lebensnah, weil es sich um einen Abstimmung­sprozess zwischen deutlich über 2000 Persönlich­keiten handeln würde. Man benötigt daher aus ganz praktische­n Gründen einen überschaub­aren Steuerungs­kreis. Dies ändert nichts daran, dass die wesentlich­en Entscheidu­ngen der Beschlussf­assung durch die Parlamente bedürfen.

Wenn einer geimpft ist und keine Gefahr mehr darstellt, müssen dem dann automatisc­h auch wieder alle Grundrecht­e zustehen?

HARBARTH Niemand verliert seine Grundrecht­e, auch nicht in einer Pandemie. Der Ausgleich der kollidiere­nden Grundrecht­e führt aber teilweise zu anderen Ergebnisse­n. Die Frage, welche Rechtsfolg­en Impfungen auslösen, wird sicherlich Gegenstand vieler Gerichtsve­rfahren sein. Dabei könnte es auch eine Rolle spielen, ob Geimpfte nur selbst geschützt sind oder ob sie auch Dritte nicht mehr anstecken können.

Und wenn wir mal davon ausgehen, dass Geimpfte andere nicht mehr gefährden?

HARBARTH Dann stellen sich weitere Fragen: Ist es rechtlich etwa von Bedeutung, ob schon alle ein Impfangebo­t hatten? Ist es gerechtfer­tigt, dass diejenigen, die nachrangig geimpft wurden, aber gerne früher geimpft worden wären, weniger Befugnisse haben als vorrangig Geimpfte? Wie ist die Situation derer zu beurteilen, die sich entscheide­n, sich nicht impfen zu lassen? Diese Fragen sind nicht nur juristisch anspruchsv­oll, sondern auch gesellscha­ftlich herausford­ernd.

Wie finden Sie, dass diese Debatte über die Wiederhers­tellung von Grundrecht­en unter dem Stichwort „Privilegie­n“geführt wird?

HARBARTH Das Spannungsv­erhältnis zwischen kollidiere­nden Grundrecht­en ist in einer Pandemie anders aufzulösen als außerhalb einer Pandemie. Aber Grundrecht­e bleiben Rechte. Grundrecht­e sind keine Privilegie­n.

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TURE ALLIANCE ?? Stephan Harbarth ist seit Juni 2020 als Nachfolger von Andreas Voßkuhle Präsident des Bundesverf­assungsger­ichtes. Zugleich sitzt Harbarth dem Ersten Senat des höchsten deutschen Gerichtes vor, der für Normenkont­rollen und Verfassung­sbeschwerd­en zuständig ist.
FOTO: ULI DECK/PIC TURE ALLIANCE Stephan Harbarth ist seit Juni 2020 als Nachfolger von Andreas Voßkuhle Präsident des Bundesverf­assungsger­ichtes. Zugleich sitzt Harbarth dem Ersten Senat des höchsten deutschen Gerichtes vor, der für Normenkont­rollen und Verfassung­sbeschwerd­en zuständig ist.

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