Als die Stadt in Schutt und Asche fiel
Am 10. Februar 1933 explodierte der Gasometer in Neunkirchen in der heutigen Bildstocker Straße und riss 68 Menschen in den Tod.
Er sollte eigentlich ein lustiger Tag werden, ein Tag voller Spaß, gutem Essen und dem ein oder anderen Gläschen Wein, der 10. Februar 1933. Zumindest für die Familie Braun. Denn Jakob Braun hatte zum Geburtstag geladen, dem letzten mit einer Vier vornedran. Bruder Karl Wilhelm und Schwester Elisabeth Scherer zusammen mit ihrem Ehemann Julius waren geladen. In der Saarbrücker Straße 95 war die Stimmung gut, alle freuten sich aufs gemeinsame Abendessen. Doch dann, um genau 18.04 Uhr: Ein lauter Knall erschütterte die Neunkircher Innenstadt. Und alles wurde anders.
Der erst zwei Jahre zuvor in der heutigen Bildstocker Straße erbaute Gasometer war in die Luft geflogen. Er riss 68 Menschen in den Tod – darunter auch Elisabeth Scherer und ihren Bruder Karl-Wilhelm. Ehemann Julius und Geburtstagskind Jakob überlebten. 160 Menschen wurden durch die Explosion zum Teil schwerst verletzt, 200 Wohnungen einfach weggefegt. 700 Menschen wurden obdachlos.
Dabei hatte der Gasometer als völlig ungefährlich gegolten. Die Möglichkeit einer Explosion hatte man ausgeschlossen. Das hatte der Neunkircher Heimatforscher Horst Schwenk der SZ für einen Beitrag anlässlich des 80. Jahrestags des Unglücks erzählt. Doch die Unmöglichkeit einer Explosion hatte sich nur auf die Explosion durch einen technischen Defekt bezogen. Schuld, so Schwenk, war ein Feuer, das von außen kam. „Da war man machtlos“, so Schwenk. „So explodiert auch heute jede Gasflasche.“
Während der Arbeiten an einem Rohr lösten vermutlich die Funken eines Schneidbrenners die Explosion aus. Zuerst war ein dumpfer Knall zu hören, dann loderte eine 30 bis 50 Meter hohe Stichflamme den Gasometer empor. In Panik geratene Bürger flüchteten, liefen Richtung Landsweiler und Bildstock. Etwa fünf Minuten später erfolgte die eigentliche Explosion, die erdbebenartige Erschütterungen hervorrief. Viele, so erzählten später Zeitzeugen, glaubten aus diesem Grunde auch erst an ein Erdbeben. Menschen flüchteten in die nahe gelegenen Wälder, so schrieb die SZ 2013. Der mit der Explosion verbundene Knall war in einem Umkreis von etwa 200 Kilometern zu hören. Die Explosion hinterließ ein riesiges Trümmerfeld. Weite Teile von Niederneunkirchen wurden verwüstet und der Neunkircher Hauptbahnhof schwer beschädigt. Vor allem entlang der Saarbrücker Straße, wo auch die Familie Braun ihre Geburtstagsfeier abhielt, wurden Wohnhäuser komplett zerstört.
In der Nacht nach der Explosion waren mehr als 600 Sanitäter, Feuerwehren aus dem gesamten Saargebiet und freiwillige Helfer im Einsatz, die die Opfer des Unglücks bargen und weitere Explosionen verhinderten. Am Tag danach wehte im ganzen Land Trauerflor. Die Beerdigung der 68 Toten fand vier Tage nach dem Unglück auf dem Scheiber Friedhof, dem damaligen Hauptfriedhof statt. Historiker Dirk Backes hat noch eine Einladung zur damaligen Trauerfeier. Das Feld für die Explosionsopfer liegt genau auf der Grenze zwischen dem ehemaligen katholischen und evangelischen Friedhof. Je nach Konfession wurden die Opfer auf der entsprechenden Seite beigesetzt – links katholisch, rechts evangelisch. 51 Tote fanden hier ihre letzte Ruhe während der gemeinsamen Beerdigung an diesem 14. Februar.
Die anderen 17 wurden auf anderen Feldern oder in ihren Heimatorten beigesetzt. 18 Tote kamen im Laufe der Jahre noch dazu – Ehepartner, die im Tode wieder mit ihren jäh aus dem Leben gerissenen Verstorbenen vereint sein wollten, oder Menschen, die an den Spätfolgen der Explosion starben Als letzte wurde hier laut Backes im November 1962 Lotte Conrad beigesetzt, bei ihrem Mann Alfred Degel.
Noch im Jahr der Explosion, so erzählt Dirk Backes, kam ein Ehrenmal auf den Ehrenhain. Den Entwurf dazu hatte Baurat Keller gemacht. Aufgestellt wurde es am 22. September 1933. Das Eisenwerk hatte es gestiftet. Ein Jahr später kamen dann Grabzeichen auf die Gräber. Auf Betreiben von Horst Schwenk erinnert seit einigen Jahren dort auch eine Tafel an die Opfer.
Insgesamt verursachte das Unglück Sachschäden in Höhe von circa 80 Millionen Franken. Das große Spendenaufkommen ermöglichte die Errichtung von Notunterkünften für die obdachlos gewordenen Menschen und den Bau der „Explosionssiedlung“bei der Roten-Kreuz-Siedlung, der heutigen Ulmenstraße.
Dirk Backes hat eine Liste über alle diejenigen, die der Schwarze Freitag das Leben kostete – sei es sofort oder wegen Spätfolgen. Hier bekommen sie ein Gesicht, ein Leben. Direkt gegenüber dem Gasometer, in Hausnummer 90, beispielsweise wohnte Familie Flick. Walter Flick, geboren 1917 hatte erst einmal Glück: er wurde „nur“verletzt. Mutter und zwei Brüder waren sofort tot. Walter Flick selbst wurde am 3. April 1936 auf dem Eisenbahngleis hinter der Zieglei Ranker tot aufgefunden. Oder die gerade mal acht Jahre alte Margarethe Schneider aus der Saarbrücker Straße 78. Sie kam noch ins Viktoria-Hospital, das spätere Hüttenkrankenhaus, wo sie ihren Verletzungen erlag. Ob der Kunstmaler Emil Wülling aus Dortmund, der gerade mal 35-jährige Diplom-Ingenieur Hans Stolley aus Hamburg-Altona, und all die Töchter, Söhne, Väter, Mütter, Brüder und Schwestern, mit deren plötzlichen Tod niemand gerechnet hatte, sie wurden Teil eines der schwärzesten Tage in der Geschichte der ehemaligen Hüttenstadt. Geblieben sind der Ehrenhain auf dem Scheiber Friedhof, Briefmarken – die einzigen, auf denen Neunkirchen erwähnt wird – und ein Buch des Historischen Vereins Stadt Neunkirchen.