Im Schatten der Doppelmoral
Immer mehr Supermärkte verkaufen Lebensmittel für Vegetarier und Veganer. Doch weiterhin liegt auch Billigfleisch im Kühlregal. Wie passt das zusammen? Und wer trägt die Verantwortung dafür?
Keine Eier, kein Käse, kein Fisch, kein Fleisch. Der Cappuccino stattdessen mit Mandelmilch, der Hamburger mit Roter Bete, die Spaghetti mit Räuchertofu. Wer diesen Planeten retten will, wer sich für Klimaschutz und Tierwohl engagiert, der verzichtet heutzutage nicht selten auf den Konsum von Fleisch oder gar sämtliche tierische Produkte. Es ist eine Entwicklung, die vor Jahrzehnten eingesetzt hat und nunmehr besonders in der jungen Generation immer populärer zu werden scheint: Waren Vegetarier, insbesondere aber Veganer in den 80er Jahren noch eine Randgruppe der Gesellschaft, so hat sich die Bewegung mittlerweile ihre dauerhafte Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung erkämpft.
In den Supermarktregalen liegen vegane Fischstäbchen neben vegetarischem Cordon Bleu, vegane Leberwurst neben vegetarischer Salami, Tofuwürstchen neben Sojaschnitzeln. Anfang Juni hat die Tierrechtsorganisation Peta den „Vegan Food Award 2020“verliehen, um zu zeigen: Die Lebensmittelbranche befindet sich in einem Umbruch in Richtung Nachhaltigkeit. Weg von tierischen Produkten, hin zu pflanzlichen Alternativen. Unter den Preisträgern befinden sich hochspezialisierte Unternehmen wie „Veganz“, „Oatly“und „Nomoo“. Doch unter den Prämierten finden sich auch zwei Namen wieder, die auf den ersten Blick nicht zwingend für veganes Engagement stehen: Aldi Nord und Aldi Süd.
Die Auszeichnung, die Peta den beiden Discountern verliehen hat, trägt den wohlklingenden Namen: „Vegan-freundlichster Supermarkt“. Und tatsächlich: Mehr als 300 Produkte bei Aldi Süd und 520 Produkte bei Aldi Nord sind eigenen Angaben zufolge mit dem V-Label versehen. Dieses offizielle Gütesiegel der Europäischen Vegetarier-Union kennzeichnet vegetarische und vegane Angebote für Kunden. Der Konzern will dazu beitragen, die vegane Ernährung bekannter zu machen. „Gleichzeitig beweisen wir, dass diese nicht teuer sein muss“, antwortet eine Sprecherin auf Anfrage des Bonner General-Anzeigers.
Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich bei der Konkurrenz ab. Auch
Rewe, Edeka und Co. glänzen mit einem steigenden Angebot an vegetarischen und veganen Alternativen im Sortiment. Doch ein Blick in die Supermarktregale zeigt: Wo das Engagement für die fleischlose Ernährung – und damit für Klimaschutz und Tierwohl – vorhanden ist, da ist dennoch das Billigfleisch nicht weit. Discounter und Supermärkte sind seit Jahren Teil jener Wertschöpfungskette, an deren Ende Frischfleisch so günstig wie nur irgend möglich verkauft wird. Und das gilt keineswegs nur für Aldi. Erst im Januar hat eine Untersuchung von Greenpeace gezeigt: In den deutschen Supermärkten stammen mehr als 70 Prozent der angebotenen Fleischsorten aus prekärer Tierhaltung.
Im April 2019 hatte der Einzelhandel erstmals eine freiwillige vierstufige Kennzeichnung für Frischfleisch aus Eigenmarken eingeführt. Dabei entspricht die Haltungsform 1 (Stall) dem gesetzlichen Mindeststandard, Haltungsform 4 (Premium) ist mit Biofleisch vergleichbar. Die Analyse von Greenpeace zeigt: Insbesondere Schweinefleisch stammt bei Rewe, Aldi, Lidl und Kaufland zu mindestens 93 Prozent aus der umstrittenen Haltungsform 1. Bei Rindfleisch sind es mindestens 88 Prozent.
„Nur Lidl hat mit konkreten Zeitangaben angekündigt, Fleisch der Haltungsform 1 zukünftig aus dem Sortiment zu nehmen (Schwein bis 2022, Rind bis 2025)“, resümiert Greenpace in der Analyse. Rewe, Aldi und Penny hätten diesen Schritt ebenfalls angekündigt, aber ohne Zeitangaben. „Edeka und Netto wollen auch weiterhin Fleisch aus der schlechtesten Haltungsstufe anbieten“, hat die Untersuchung offengelegt.
Doch die Supermärkte sind dabei lediglich Teil eines riesigen Mosaiks der Doppelmoral. Solange die Politik keine Gesetzesänderungen beschließt, können auch die Supermärkte nicht ohne Weiteres Einfluss auf den preislichen Spielraum, geschweige denn auf die Fleischproduktion selbst nehmen. Der Schwarze Peter wird sich immer und immer wieder gegenseitig zugeschoben. Allerdings: Angesichts der jüngsten Corona-Ausbrüche in der Fleischbranche wächst der Druck für bessere Bedingungen in den Ställen. So forderte der Bundestag die Bundesregierung Anfang Juli mit breiter Mehrheit auf, noch vor der Wahl 2021 eine Strategie vorzulegen, wie die Tierhaltung grundlegend umgebaut werden kann. Diese Strategie soll zudem Vorschläge zur Finanzierung der Reform enthalten: Im Gespräch sind auch Preisaufschläge für Supermarktkunden. Womit erneut die Frage nach Verantwortung in den Raum geworfen wird. Sind es die Fleischbetriebe, die Supermärkte, die Politiker oder die Kunden? Wer kann sich nachhaltig gegen Billigfleisch auflehnen?
Anfang Juli nahm Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner auch die Verbraucher in die Pflicht. In Umfragen sage zwar eine Mehrheit, sie würde mehr für Fleisch bezahlen, auch für Tierwohl. „Die Supermarktkasse belegt aber das Gegenteil“, äußerte die Ministerin in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Auch Aldi betont auf Anfrage des Bonner General-Anzeigers: „Wir bieten unseren Kunden Produkte jeder Haltungsstufe an und arbeiten kontinuierlich an der Verbesserung der Tierhaltungsbedingungen in Deutschland. Auch wenn die Anteile von Stufe 3 (Fair & Gut) und Stufe 4 (bio) kontinuierlich wachsen, machen den Großteil unseres Angebots nach wie vor die Haltungsstufen 1 und 2 aus. Das Angebot spiegelt hierbei das Nachfrageverhalten unserer Kunden wider.“
Aber bestimmt wirklich die Nachfrage das Angebot – oder könnte es nicht auch andersherum sein? Supermärkte tragen eine Verantwortung, sagt etwa der Deutsche Tierschutzbund mit Sitz in Bonn. „Welchen Wert wir tierischem Leben in unserer Gesellschaft beimessen, liegt nicht nur in der Hand des einzelnen Kaufenden, sondern auch bei denen, die Fleisch und tierische Produkte anbieten und bewerben“, antwortet eine Sprecherin auf Anfrage. Auf der einen Seite bediene der Lebensmittelhandel die
Wünsche und Bedürfnisse der Verbraucher: „Es gibt Konsumenten, die das tägliche Schnitzel als Menschenrecht empfinden und dafür so wenig wie möglich zahlen wollen.“Doch eben dieses Empfinden haben Supermärkte nach Ansicht des Tierschutzbundes mitverschuldet: „Dass viele Verbraucher bis heute nicht bereit sind, für Fleisch und tierische Produkte mehr zu zahlen, geht auf die Rechnung von Handel und Discountern, die sich jahreund jahrzehntelang mit Billigpreisen gegenseitig unterboten haben“, resümiert die Sprecherin.
Außer Frage steht: Die mediale Aufmerksamkeit für den fleischlosen Lebensstil ist enorm – positiv wie negativ. Dabei leben laut einer Analyse des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2019 in Deutschland gerade einmal 6,1 Millionen Vegetarier und 950 000 Veganer, insgesamt also weniger als zehn Prozent der Bevölkerung. Dennoch zeigt eine Studie des globalen Marktforschungsinstituts Mintel: In den vergangenen sieben Jahren hat sich die Zahl neuer veganer Produkte im Einzelhandel mehr als verdreifacht. Waren 2013 noch vier Prozent aller neuen Lebensmittel in Deutschland vegan, so betrug der Anteil im Jahr 2018 rund 13 Prozent.
Dabei ist die Idee einer fleischfreien Ernährung keineswegs eine neue Erfindung. Die Geschichte der Vegetarier reicht bis in die Antike zurück und wurde zum Beispiel vom Philosophen Pythagoras popularisiert. Seine vegetarische Lebensweise war – durch den Glauben an die Wiedergeburt von Tieren – religiös und ethisch motiviert. Etabliert hat sich der Vegetarismus dennoch erst im 19. Jahrhunderts, zunächst insbesondere im angelsächsischen Raum. 1801 wird der erste Vegetarier-Verein in London gegründet, 1847 folgt die Gründung der bis heute bestehenden „Vegetarian Society“. In Deutschland existiert seit 1867 die „Vegetarische Vereinigung“.
Tatsächlich scheint es, als wäre die Bereitschaft für einen bewussteren Umgang mit Fleisch in Deutschland in den vergangenen Jahren gestiegen. Das zeigte zuletzt eine Studie des Marktforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Während im Jahr 2015 noch 34 Prozent der Befragten angaben, täglich Fleisch und Wurst zu essen, sind es aktuell 26 Prozent.
Geht der Fleischkonsum also wirklich zurück? Vorläufige Zahlen der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung belegen das genaue Gegenteil. Die Bereitschaft zum Fleischverzicht mag auf dem Papier gestiegen sein, der reale Fleischverbrauch ist in den vergangenen 20 Jahren aber nur marginal zurückgegangen. 2019 aßen die Deutschen pro Kopf durchschnittlich 59,5 Kilogramm Fleisch. 2018 waren es 61,1 Kilogramm. Zum Vergleich: Im Jahr 2010 betrug der Verbrauch 62,42 Kilogramm, im Jahr 2000 waren es 61,53 Kilogramm. Der Rückgang ist verschwindend gering.
Gleichzeitig landen nach Angaben von Forsa trotzdem immer mehr pflanzliche Alternativen in den Einkaufskörben: Knapp die Hälfte der Befragten hat mindestens einmal vegetarische oder vegane Alternativen gekauft. Drei Viertel aller Befragten geben an, die Produkte aus Neugier zu kaufen, 48 Prozent tun es aus Tierschutzgründen, 41 Prozent sind durch den Klimaschutz motiviert.
Doch was nun letztendlich den veganen Sinneswandel in den Discountern und Supermärkten motiviert, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten. Ist es ethische Verantwortung? Oder wird da in den Marketingabteilungen lediglich ein gesellschaftlicher Trend aufgeschnappt, der neue Kunden anlockt?
Eine simple Begründung lässt sich auf diese Fragen nicht geben. Der Tierrechtsorganisation Peta zufolge zählt jedoch jeder einzelne Schritt in Richtung nachhaltige Ernährung. Denn: „Jedes Jahr werden allein in Deutschland knapp 800 Millionen Landlebewesen für die menschliche Ernährung getötet, hinzu kommen Milliarden von Meeresbewohnern“, sagt Frank Schmidt, Head of Corporate Affairs. Deshalb sei es wichtig, dass Unternehmen mehr vegane Produkte in ihr Sortiment aufnehmen. „Jede rein pflanzliche Mahlzeit rettet Tierleben.“
Cappuccino mit Mandel
milch, Hamburger mit Roter Bete, Spaghetti mit Räuchertofu