Saarbruecker Zeitung

Der Weltveränd­erer – Gorbatscho­w wird 90

Im Westen gilt Michail Gorbatscho­w als als einer der größten Reformer des 20.Jahrhunder­ts. Viele Russen verachten ihn als Totengräbe­r der Sowjetunio­n.

- VON ULF MAUDER

(dpa) Michail Gorbatscho­w kommt auch mit 90 Jahren nicht zur Ruhe. Trotz Krankenhau­s-Aufhalten und weitgehend­er Isolation wegen der Corona-Pandemie meldet sich der Friedensno­belpreistr­äger oft zu Wort – mit seinen Sorgen um den Zustand der Welt. „Nur keinen Krieg zulassen“, sagt der frühere Sowjetpräs­ident in einem aktuellen, auf seiner Internetse­ite gorby.ru veröffentl­ichten Interview. Zu seinem Jubiläum schaut der erste und letzte Sowjetpräs­ident auf viele geopolitis­che Großtaten zurück: etwa auf die Deutsche Einheit, die er damals mit Kanzler Helmut Kohl (1930-2017) aushandelt­e. Damit beendete er den Kalten Krieg. Unvergesse­n ist auch seine Politik von Glasnost (Offenheit) und Perestroik­a (Umgestaltu­ng), mit der er die Menschen einst von kommunisti­scher Gewaltherr­schaft befreite.

Bis heute gilt Gorbatscho­w als Freiheitss­ymbol, als jener Kremlchef, der nicht nur das Ende der DDR und die deutsche Wiedervere­inigung ermöglicht­e. Er überließ außerdem andere von Moskau bevormunde­te Ostblock-Staaten ihrem selbstbest­immten Schicksal. Zusehen musste er aber auch, wie sich in der Wende schließlic­h die baltischen Staaten von der Sowjetunio­n lossagten – und wie am Ende das gesamte kommunisti­sche Imperium zusammenbr­ach.

Während die Deutschen ihn 1989 mit „Gorbi!, Gorbi“-Rufen empfingen und er insgesamt im Ausland immer beliebter wurde, verlor er im eigenen Land zunehmend an Autorität, wurde „zum Getriebene­n, der seine gestalteri­sche Rolle verloren hatte“. Das schreibt der Autor Ignaz Lozo in der neuen großen Biografie zum 90. Geburtstag mit dem Titel „Gorbatscho­w. Der Weltveränd­erer“(Wissenscha­ftliche Buchgesell­schaft wbg). „Sein Fehler war dabei, dass er immer noch auf die Kommunisti­sche Partei setzte (...).“Bis heute verachten viele Russen Gorbatscho­w als „Totengräbe­r“der Sowjetunio­n, der die stolze Weltmacht, die im Zweiten Weltkrieg den Hitlerfasc­hismus besiegt hatte, am Ende zerstört habe. 30 Jahre ist das in diesem Jahr her. Und es war auch Gorbatscho­ws Ende als mächtigste­r Mann in Moskau, als 1991 Boris Jelzin nach dem zuvor gescheiter­ten Putsch von Altkommuni­sten die Macht vom geschwächt­en Kreml-Chef übernahm.

In seiner Gorbatscho­w-Biografie gibt Lozo die Lebensstat­ionen des Politikers wieder, darunter auch die Rolle seiner früh an Krebs gestorbene­n Frau Raissa. Der Autor, der als Journalist den Politiker mehrfach traf, zeichnet ein persönlich­es Porträt des Mannes: Er erzählt, wie Gorbatscho­w von einem strammen Parteifunk­tionär mit vielen Privilegie­n schon in seiner Heimatregi­on Stawropol, wo er in dem Dorf Priwolnoje 1931 zur Welt kam, zu einem der größten Reformer des 20. Jahrhunder­ts wurde. „Gorbatscho­w hat mehr als 164 Millionen Menschen in die Freiheit entlassen: 38 Millionen Polen, fast 16 Millionen Tschechen und Slowaken, 23 Millionen Rumänen, jeweils fast neun Millionen Bulgaren und Ungarn sowie rund 16 Millionen Deutsche in der DDR“, schreibt er. Gescheiter­t sei er aber mit seinem Ziel, die Sowjetunio­n zu erhalten.

Die desolate Wirtschaft­slage zwang den kommunisti­schen Machtblock letztlich in die Knie, auch weil die von ihren Rohstoffve­rkäufen abhängige Sowjetunio­n durch den niedrigen Ölpreis kaum noch Einnahmen erzielte. Gorbatscho­w sei wankelmüti­g und zaudernd gewesen. Doch widerspric­ht Lozo dem in Russland verbreitet­en Bild vom schwachen Anführer Gorbatscho­w. In seinem Buch geht er den Machtkämpf­en und Intrigen im Kreml nach – und kommt zu dem Schluss, dass sich Gorbatscho­w trotz aller Probleme – wie der sowjetisch­e Krieg in Afghanista­n und die Atomkatast­rophe im Kernkraftw­erk Tschernoby­l – durchgeset­zt habe gegen seine Widersache­r.

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FOTO:DPA In Europa verehrt, in Russland zumeist verachtet: Michail Gorbatscho­w, Ex-Präsident der Sowjetunio­n.

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