„Corona ist nicht immer nur Tod“
Vor einem Jahr erreichte Corona das Saarland. Der Fall von Gerhard Johann, der sich im November infizierte, zeigt wie tückisch und folgenreich die Krankheit ist.
Corona-Erinnerungsstücke, man wird sie irgendwann im Museum finden. Die Stimme von Schwester Monika ist auf einem Bexbacher Anrufbeantworter archiviert. Am 28. November vergangenen Jahres sprach die Pflegekraft der Homburger Universitätsklinik der Familie Johann auf Band: Vater Gerhard (63) sei per Telefon erreichbar, er könne wieder sprechen. Nachmittags fand die erste Familien-Videokonferenz statt. Nach 38 Tagen Kontaktriss, folternder Stille, überbrückt nur durch tägliche Telefonate mit der Corona-Intensivstation. Deren Mitarbeiter leisten aus Sicht der Familie Übermenschliches. Nicht nur, weil die Pfleger die Patienten keine Sekunde allein lassen, sondern mit „ruhigem Mut“um sie kämpfen. Auch die Anghörigen werden betreut, mit einbezogen, informiert.
Es war Johanns Sohn Eric (32), der die täglichen Anrufe übernahm – eine quälende Last. Er absolvierte sie bei geschlossener Zimmertür, am Tisch warteten die Mutter, Schwester Daniela mit Mann und zwei Kindern, 12 Jahre und 15 Monate alt. „Er hatte von uns allen die schwierigste Aufgabe“, sagt Daniela
Becker-Johann (34) über Eric. Viel zu oft musste er beängstigende Dinge aus dem Behandlungsablauf in die Runde vermitteln: Luftröhrenschnitt, Nierenversagen, Herz-Kreislauf-Zusammenbruch, Reanimationen und extrakorporale Lungenunterstützung (ECMO) – früher hieß das Lungenmaschine. Eine Höllenfahrt, eine Höllenvorstellung. Und nie durfte man die Hand des Vaters drücken. „Meine Mutter kann bis heute nicht gut über diese Zeit sprechen“, so Becker-Johann.
„Gerhard Johann war schwerst, schwerst krank“, so fasst es Professor Dr. Dr. Robert Bals zusammen, was just am 30 .Dezember ein Happy End nahm. Entlassung von Johann aus der Homburger „Klinik für Innere Medizin V – Pneumologie, Allergologie, Beatmungs- und Umweltmedizin“, sprich aus der Corona-Intensivstation. Ab in die Reha nach St. Wendel, noch mal dreieinhalb Wochen. Und heute? „Ich bin nicht gesund, aber voll zufrieden“, sagt Johann, „Selbst wenn alles so bleibt, wie es ist.“Ein Corona-Jahr lehrt Demut. Zwei Finger der linken Hand kann der Mann, der früher im Bexbacher Bauhof körperlich hart arbeitete, nicht mehr bewegen, beide Beine sind taub, das linke lässt sich unterhalb des Knies nicht belasten, der Fuß rollt nicht ab, er geht am Rollator. „Er ist als kräftiger, starker Handwerker ins Krankenhaus gegangen und kam als nicht mobiler Mensch wieder raus. Das zu sehen, ist für uns vermutlich schlimmer als für ihn“, sagt die Tochter. Gottseidank sei ihr Papa, so nennt sie ihn, ein Kämpfer und Optimist, er selbst nennt sich einen „zähen Hund“. Wohl wahr.
Am 13. November sah noch alles ganz anders aus, nach einer Katastrophe. Da hatte ein Arzt der Familie mitgeteilt, dass Johann, sollte er überhaupt überleben, höchst wahrscheinlich ein „Intensiv-Pflegepatient“bleibe, also mit Druckbeatmung ans Bett gefesselt. „Da haben wir alle um den Tisch gesessen und geweint“, erinnert sich Daniela. Auf Schock und Schmerz folgten zermürbende Zweifel und Angst in einer gänzlich neuen Dimension: „Wir fragten uns, dürfen wir das für ihn erhoffen, wünscht man ihm das? Wir fürchteten, er würde sich womöglich selbst den Schlauch aus dem Hals ziehen, wenn er merkt, wie es ihm geht.“Daniela Becker-Johann beschreibt die Zeit wie einen Alptraum bei vollem Bewusstsein: „Man weiß in jedem Moment: Niemand macht dich wach.“
Aushalten und Hoffen sind im Corona-Jahr, wenn es Familien so hart trifft wie die Johanns, alternativlos, Tag um Tag. Begonnen hat diese wahrlich außerordentliche Corona-Geschichte am 15. Oktober. Der Leiter des Bexbacher Bauhofs rief bei Gerhard Johann an, dessen hohe Gefährdung wegen einer COPD-Erkrankung war bekannt: Der Vater des jungen Arbeitskollegen, den Johann täglich im Auto mit zur Arbeit nahm, sei an Corona erkrankt, lautete die Botschaft. Am Tag danach hatte Johann selbst Erkältungssymptome und einen von seiner Hausärztin bestätigten positiven Test. Noch mal zwei Tage später war der gesamte Bauhof getestet: sechs Infizierte, und auch bei den Johanns gab es zwei Fälle: Daniela – ohne heftige Symptome – und ihre Mutter. „Sie hustete ganz schlimm, um sie haben wir uns am meisten Sorgen gemacht, auch mein Vater.“Der litt unter Appetitlosigkeit,
hatte Fieber, dämmerte und schlief schließlich nur noch. „Wir können dich nicht besuchen“, warnten Kinder und Frau ihn, als er sich am 22. Oktober entschloss, in die Klinik zu gehen. Er rief selbst noch den Notarzt, stieg um 11.40 Uhr in den Wagen und – Filmriss. Denn schon um 16 Uhr lag er nach akutem Lungenversagen im künstlichen Koma. Als Johann nach rund vier Wochen am 20. November wieder zu sich kam, konnte er weder sprechen noch Hände oder Beine bewegen. Aber er konnte seine Familie erkennen. Daniela hatte, nachdem aus der Klinik die Botschaft gekommen war, man werde die Narkosemittel reduzieren, Fotos für eine Nachttisch-Fotogalerie zusammengebastelt, er sollte Vertrautes sehen: „Nur den Papa nicht allein aufwachen lassen!“So waren sie alle pünktlich am Bett, als am 20. November das geschah, womit zehn Tage zuvor keiner mehr gerechnet hatte. Wider jede Prognose: der schwerst, schwerst kranke Patient Johann erwachte.
Rein statistisch gesehen ist Johann einer von aktuell rund 27 000 Corona-„Gesundeten“im Saarland seit Beginn der Pandemie. Zugleich gehört der Bexbacher zur Gruppe der 170 Long-Covid-Patienten, die in der neu eröffneten Homburger Nachsorge-Ambulanz seit neun Monaten betreut wurden und werden. Insgesamt nahm das UKS mehr als 500 Menschen im Zusammenhang mit Covid-19 stationär auf, 110 Patienten davon wurden künstlich beatmet, wie Johann. Und alle sind in der Nachbehandlung. Denn „nach Corona“heißt für Patienten wie Johann: mit Corona-Folgen weiterleben. 17,6 Prozent haben es nicht gepackt.
Als Johann im November ins Leben zurückkehrte, lagen Strapazen vor ihm: Essen- und Schlucken lernen, wieder aufrecht sitzen können – unfassbare Erfolgserlebnisse. Es folgten kaum zu bewältigende Momente, auch für Daniela: Seinen 63. Geburtstag am 22. Dezember verbrachte der Vater in der Klinik, das erste Weihnachten nach 43 Jahren Ehe – allein. Dennoch war es für Vater und Tochter im Rückblick kein Horrorjahr. „Wir möchten zeigen: Corona ist nicht immer nur Tod.“Sondern auch: Beistand und Liebe.
„Wir fürchteten, er würde sich womöglich selbst den Schlauch aus dem Hals ziehen, wenn er merkt, wie es ihm geht.“
Daniela Becker-Johann
Tochter von Gerhard Johann