Wenn man nie wirklich dazugehört
Deniz Ohdes Romandebüt „Streulicht“ist eine Entdeckung. Die Autorin erzählt von einer Jugend in Frankfurt und dem Gefühl der Ausgrenzung.
SAARBRÜCKEN Zum einen sticht dieser Roman durch sein äußerst konsequent verfolgtes Thema aus der belletristischen Neuerscheinungsflut heraus: Deniz Ohde zeichnet mit bemerkenswerter Prägnanz nach, wie es dazu kommen kann, dass ein in Deutschland geborenes deutsch-türkisches Mädchen (die Mutter Kurdin, der Vater Deutscher) nie das Gefühl von Normalität und Gleichberechtigung entwickelt. Sondern sich immer wieder selbst ins Abseits rückt. Zum anderen zeigt dieses Debüt eine literarische Reife, die einem so nicht alle Tage begegnet.
Am Anfang kehrt die Erzählerin nach Jahren der Abwesenheit wieder zurück in ihre alte Heimat Frankfurt-Sindlingen unweit des die Gegend mit ihrem titelgebenden „Streulicht“, ihrem überirdischen Röhrensystem und „einem Film aus Stickstoff und Nitrat“prägenden Chemieparks von Höchst: Bereits, als sie das Ortsschild passiert, wird ihr Gesicht wieder zu der Maske von früher und „versteinert zu dem Ausdruck, den mein Vater mir beigebracht hat und mit dem er noch immer selbst durch die Straßen geht. Eine ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht.“Das Muster des Abtauchens, des Nicht-Auffallen-Wollens sitzt so tief, dass es sofort wieder ihren Körper regiert.
So wurde sie sozialisiert: Selbst das Zuhause wurde als Versteck begriffen, das auf Wunsch des Vaters niemand aufsuchen, heimsuchen durfte. Eine Jugend als sich selbst auferlegte Randständigkeit: Draußen droht man als Fremde zurechtgestutzt zu werden, drinnen regiert die Stummheit. Der Vater ist ein Messi, der mit den Jahren immer mehr dem Alkohol verfällt, während die Mutter innerlich auf den Absprung wartet (und ihn irgendwann wagt und nur zwei Straßen weiterzieht).
Immerhin, zwei Freunde hat Ohdes Erzählerin: Pikka und Sophia. Wenn sie in Pikkas Zimmer ihre Zeit totschlagen, läuft immer Black Sabbaths Best-of-CD. Während ihre beiden Freunde jedoch das Gymnasium schaffen und später studieren, ansonsten aber anders als Ohdes Ich-Figur ihr Frankfurt nie hinter sich lassen wollen, ist sie, die Dritte
im Bund, immer die Verliererin: Schulabbrecherin, dazu immer voreilig als Migrantin abgestempelt und lange außerstande, ihre Apathie und Isolation abzuschütteln.
Auch nachdem Ohdes namenlose Erzählerin im zweiten Anlauf ihre Bildungsbiografie bravourös abschließt, glaubt sie, weit mehr aufbieten zu müssen als alle anderen: „In jeder Sekunde hatte ich das Gefühl, etwas unter Beweis stellen zu müssen, das weiter reichte als nur in den Notenspiegel hinein, um nicht wieder vom Boden der Bildung zu rutschen.“
Ohde schildert die sozialen Verwerfungen mit viel Gespür für Details, Gefühlslagen und Ausflüchte. Selten wurde soziale Klaustrophobie so eindringlich vor Augen geführt wie hier. Ohdes Ich-Erzählerin lebt in einer Endlosschleife aus Vorverurteilungen und Selbstbeschuldigungen, aus der es kein Entrinnen gibt. Kein Anfang, kein Ende. Als staue sich die Ausweglosigkeit mit jedem Tag mehr: „Man konnte nicht ausmachen, wo sich der Druck aufbaute, ob es draußen auf den Flusswiesen war oder in irgendeiner Wohnung, ob es in einem selbst war, ob man selbst diejenige sein würde, die sich umbrachte, woran ich jedes Mal denken musste, wenn Pikka und ich auf unserer Runde an der Kirche vorbeikamen.“Tatsächlich sprengte sich in den 90er Jahren in Sindlingen eine Frau während einer Weihnachtsmesse in die Luft. Ohdes namenlose Erzählerin fühlt sich ihr verbunden, weil alle anderen in ihrem Umfeld ihr Leben irgendwie bewältigen – anders als sie: „Ob man sich in die Luft sprengt oder ob man geht, sehr leise geht, ohne das Licht hinter sich zu löschen – das schienen mir früher die beiden Möglichkeiten zu sein.“
Nie verliert das heranwachsende Mädchen das Gefühl, ihre Unsicherheit schon geerbt und die sie niederdrückende Sensibilität verdient zu haben. Als sie eines Tages auf dem Schulhof als Kellerkind und Kanakin tituliert und zu Boden geworfen wird, rät die Lehrerin ihrer blutenden Schülerin nur, sich ein dickeres Fell wachsen zu lassen. Fortan hat sie noch mehr das Gefühl, nichts fordern zu dürfen, sondern alles erdulden zu müssen. In ihrer Selbstverleugnung entwickelt sie eine gewisse Meisterschaft: Kaschieren muss sie, dass zuhause jeden Tag ein neues Unglück nistet. Weil sie unentwegt fürchtet, durch jedes Raster zu fallen – schulisch, pubertär, künftig –, gleicht ihr Leben einer einzigen großen Vermeidung. Notdürftig versucht sie, irgendwie mitzuhalten und sucht Rat in Mädchen-Zeitschriften, weil sie sich niemand anvertrauen kann.
So subtil und tiefschürfend, wie Deniz Ohde die entsetzlich einsame Selbstwerdung dieser Deutschkurdin nachzeichnet, ist man lange Zeit geneigt, dieses Debüt ohne Einschränkung zu rühmen. Leider aber ist es nach diesen 200 Seiten nicht zuende. In den letzten 80 Seiten wiederholt sich das Buch, tritt auf der Stelle, variiert immerfort aufs Neue die bekannten psychologischen Muster seiner Hauptfigur und verliert so die innere Stringenz, die den Roman so lange ausgezeichnet hat. Weniger ist manchmal mehr.
Deniz Ohde: Streulicht.
Suhrkamp, 285 Seiten, 22 Euro.