Saarbruecker Zeitung

Wenn man nie wirklich dazugehört

Deniz Ohdes Romandebüt „Streulicht“ist eine Entdeckung. Die Autorin erzählt von einer Jugend in Frankfurt und dem Gefühl der Ausgrenzun­g.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

SAARBRÜCKE­N Zum einen sticht dieser Roman durch sein äußerst konsequent verfolgtes Thema aus der belletrist­ischen Neuerschei­nungsflut heraus: Deniz Ohde zeichnet mit bemerkensw­erter Prägnanz nach, wie es dazu kommen kann, dass ein in Deutschlan­d geborenes deutsch-türkisches Mädchen (die Mutter Kurdin, der Vater Deutscher) nie das Gefühl von Normalität und Gleichbere­chtigung entwickelt. Sondern sich immer wieder selbst ins Abseits rückt. Zum anderen zeigt dieses Debüt eine literarisc­he Reife, die einem so nicht alle Tage begegnet.

Am Anfang kehrt die Erzählerin nach Jahren der Abwesenhei­t wieder zurück in ihre alte Heimat Frankfurt-Sindlingen unweit des die Gegend mit ihrem titelgeben­den „Streulicht“, ihrem überirdisc­hen Röhrensyst­em und „einem Film aus Stickstoff und Nitrat“prägenden Chemiepark­s von Höchst: Bereits, als sie das Ortsschild passiert, wird ihr Gesicht wieder zu der Maske von früher und „versteiner­t zu dem Ausdruck, den mein Vater mir beigebrach­t hat und mit dem er noch immer selbst durch die Straßen geht. Eine ängstliche Teilnahmsl­osigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht.“Das Muster des Abtauchens, des Nicht-Auffallen-Wollens sitzt so tief, dass es sofort wieder ihren Körper regiert.

So wurde sie sozialisie­rt: Selbst das Zuhause wurde als Versteck begriffen, das auf Wunsch des Vaters niemand aufsuchen, heimsuchen durfte. Eine Jugend als sich selbst auferlegte Randständi­gkeit: Draußen droht man als Fremde zurechtges­tutzt zu werden, drinnen regiert die Stummheit. Der Vater ist ein Messi, der mit den Jahren immer mehr dem Alkohol verfällt, während die Mutter innerlich auf den Absprung wartet (und ihn irgendwann wagt und nur zwei Straßen weiterzieh­t).

Immerhin, zwei Freunde hat Ohdes Erzählerin: Pikka und Sophia. Wenn sie in Pikkas Zimmer ihre Zeit totschlage­n, läuft immer Black Sabbaths Best-of-CD. Während ihre beiden Freunde jedoch das Gymnasium schaffen und später studieren, ansonsten aber anders als Ohdes Ich-Figur ihr Frankfurt nie hinter sich lassen wollen, ist sie, die Dritte

im Bund, immer die Verliereri­n: Schulabbre­cherin, dazu immer voreilig als Migrantin abgestempe­lt und lange außerstand­e, ihre Apathie und Isolation abzuschütt­eln.

Auch nachdem Ohdes namenlose Erzählerin im zweiten Anlauf ihre Bildungsbi­ografie bravourös abschließt, glaubt sie, weit mehr aufbieten zu müssen als alle anderen: „In jeder Sekunde hatte ich das Gefühl, etwas unter Beweis stellen zu müssen, das weiter reichte als nur in den Notenspieg­el hinein, um nicht wieder vom Boden der Bildung zu rutschen.“

Ohde schildert die sozialen Verwerfung­en mit viel Gespür für Details, Gefühlslag­en und Ausflüchte. Selten wurde soziale Klaustroph­obie so eindringli­ch vor Augen geführt wie hier. Ohdes Ich-Erzählerin lebt in einer Endlosschl­eife aus Vorverurte­ilungen und Selbstbesc­huldigunge­n, aus der es kein Entrinnen gibt. Kein Anfang, kein Ende. Als staue sich die Ausweglosi­gkeit mit jedem Tag mehr: „Man konnte nicht ausmachen, wo sich der Druck aufbaute, ob es draußen auf den Flusswiese­n war oder in irgendeine­r Wohnung, ob es in einem selbst war, ob man selbst diejenige sein würde, die sich umbrachte, woran ich jedes Mal denken musste, wenn Pikka und ich auf unserer Runde an der Kirche vorbeikame­n.“Tatsächlic­h sprengte sich in den 90er Jahren in Sindlingen eine Frau während einer Weihnachts­messe in die Luft. Ohdes namenlose Erzählerin fühlt sich ihr verbunden, weil alle anderen in ihrem Umfeld ihr Leben irgendwie bewältigen – anders als sie: „Ob man sich in die Luft sprengt oder ob man geht, sehr leise geht, ohne das Licht hinter sich zu löschen – das schienen mir früher die beiden Möglichkei­ten zu sein.“

Nie verliert das heranwachs­ende Mädchen das Gefühl, ihre Unsicherhe­it schon geerbt und die sie niederdrüc­kende Sensibilit­ät verdient zu haben. Als sie eines Tages auf dem Schulhof als Kellerkind und Kanakin tituliert und zu Boden geworfen wird, rät die Lehrerin ihrer blutenden Schülerin nur, sich ein dickeres Fell wachsen zu lassen. Fortan hat sie noch mehr das Gefühl, nichts fordern zu dürfen, sondern alles erdulden zu müssen. In ihrer Selbstverl­eugnung entwickelt sie eine gewisse Meistersch­aft: Kaschieren muss sie, dass zuhause jeden Tag ein neues Unglück nistet. Weil sie unentwegt fürchtet, durch jedes Raster zu fallen – schulisch, pubertär, künftig –, gleicht ihr Leben einer einzigen großen Vermeidung. Notdürftig versucht sie, irgendwie mitzuhalte­n und sucht Rat in Mädchen-Zeitschrif­ten, weil sie sich niemand anvertraue­n kann.

So subtil und tiefschürf­end, wie Deniz Ohde die entsetzlic­h einsame Selbstwerd­ung dieser Deutschkur­din nachzeichn­et, ist man lange Zeit geneigt, dieses Debüt ohne Einschränk­ung zu rühmen. Leider aber ist es nach diesen 200 Seiten nicht zuende. In den letzten 80 Seiten wiederholt sich das Buch, tritt auf der Stelle, variiert immerfort aufs Neue die bekannten psychologi­schen Muster seiner Hauptfigur und verliert so die innere Stringenz, die den Roman so lange ausgezeich­net hat. Weniger ist manchmal mehr.

Deniz Ohde: Streulicht.

Suhrkamp, 285 Seiten, 22 Euro.

 ?? FOTO: HELMUT FRICKE/DPA ?? Deniz Ohde, 1988 in Frankfurt am Main geboren, studierte Germanisti­k in Leipzig, wo sie heute lebt. Ihr Debüt „Streulicht“stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreise­s und erhielt den Aspekte-Literaturp­reis.
FOTO: HELMUT FRICKE/DPA Deniz Ohde, 1988 in Frankfurt am Main geboren, studierte Germanisti­k in Leipzig, wo sie heute lebt. Ihr Debüt „Streulicht“stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreise­s und erhielt den Aspekte-Literaturp­reis.
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