Saarbruecker Zeitung

„Die Pandemie bietet auch kreative Chancen“

Der Vorsitzend­e des Städtebaub­eirats über die Zukunft Saarbrücke­ns, über parasitäre Handels-Ketten und Fehler der Landesregi­erung.

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Städte müssen sich verändern. Klimawande­l, Online-Handel und als Brandbesch­leuniger die Corona-Krise sorgen dafür, dass es kein Weiter so geben kann. Luca Kist, Stadtplane­r, Landschaft­sarchitekt und Vorsitzend­er des Städtebaub­eirats Saarbrücke­n, eines beratenden Fach-Gremiums der Landeshaup­tstadt, hat dazu eine ganze Menge zu sagen.

Sind unsere Innenstädt­e noch zu retten nach Corona? Mit dieser provokante­n Frage hat gerade der Architekte­n- und Ingenieurs­verein Berlin-Brandenbur­g eine Debatte angestoßen. Auch Sie als Städtebaub­eirat in Saarbrücke­n haben sich mit dieser Frage in ihrem Manifest zur Post-Corona-City beschäftig­t. Was würden Sie sagen: Sind wir noch zu retten?

Von rettungsbe­dürftigen Untergangs­szenarien würde ich in diesem Zusammenha­ng nicht reden, auch wenn sich mit Blick auf den Einzelhand­el und die Gastronomi­e dem Stadtplane­r mehr als nur Sorgenfalt­en auf der Stirn zeigen. Entfernt geglaubte Zukunftsth­emen wurden durch Corona wie durch einen Teilchenbe­schleunige­r in die Gegenwart katapultie­rt. Onlinehand­el gegen Einzelhand­el, Homeoffice contra Büroetagen, Geschosswo­hnungsbau versus Freiraum oder „Langsam-Verkehr“gegen ÖPNV.

Was bedeutet das für die Stadtplanu­ng der Zukunft?

Unsere Gesellscha­ft, aber insbesonde­re auch die Stadtentwi­cklungspla­nung, wird lernen müssen, sich auf neue Lebens- und Arbeitswei­sen einzustell­en. Und so werden mit dieser Pandemie auch Chancen und kreative Lösungsans­ätze geboren. Und genau das ist der Reiz, der Stadtentwi­cklung ausmacht. Stadtplane­rinnen, Architekte­n und Ingenieuri­nnen gehören zu den Schlüsself­iguren des anstehende­n Wandels, sind sozusagen die Kavallerie der Pandemie, um in Jargon Ihrer Eingangsfr­age zu bleiben.

Trotz Klimawande­l, trotz der Tatsache, dass viele Städte – auch Saarbrücke­n – den Klimanotst­and ausgerufen haben, sieht man keine konkreten Handlungen. Im Gegenteil: Weiterhin werden in Saarbrücke­n Wälder abgeholzt (aktuell Gersweiler und Dudweiler) für Gewerbe und Wohnungsba­u. Der zunehmende Platzbedar­f des einzelnen Menschen frisst Natur. 60 Hektar Grünfläche gehen in Deutschlan­d täglich (!) verloren. Jede kleine Kommune weist immer neue Neubaugebi­ete aus, während die Ortskerne veröden. Sollte man nicht langsam mal den Neubau von Einfamilie­nhäusern reglementi­eren, wie Fachleute zunehmend fordern?

Das ist in der Tat ein latentes Problem, das aber nicht in einer zugespitzt­en Einfamilie­nhaus-Diskussion münden darf. In der von Ihnen genannten täglichen Versiegelu­ngsrate ist auch ein erhebliche­r Teil Verkehrsfl­äche, also Straßen, Wege und Parkplätze, enthalten. Schauen Sie sich nur den Flächenbed­arf für Discounter und Möbelhäuse­r in unserer Stadt an. Die Ursache des Problems liegt aber meines Erachtens eine Maßstabseb­ene höher: in der Raum- und Flächenpla­nung unseres Landes. Wir warten seit 2006 auf die Fortschrei­bung des Flächenent­wicklungsp­lanes „Umwelt“bzw. „Siedlung“, der die Weichenste­llung bei der strukturel­len Flächenina­nspruchnah­me vornimmt.

Will heißen, das Land hat seine Hausaufgab­en nicht gemacht?

Ich bin der Auffassung, dass die Landesplan­ung in diesem Punkt ihrer Aufgabe und Kompetenz zur Steuerung der Siedlungs- aber auch der Freiraumen­twicklung nicht nachkommt. Ich kenne aus meiner Berufsprax­is kein Bundesland, das so fahrlässig mit dem wichtigste­n Steuerinst­rument der formalen Raumordnun­g umgeht, wie das Saarland. Da müssen wir uns nicht wundern, dass Kommunen, anstatt in Leerstandm­anagement und Innenentwi­cklung ihrer Ortskerne zu investiere­n, lieber die „grüne Wiese“am Ortsrand zupflaster­n.

Einige Städte haben schon vor Corona begonnen, auf das veränderte Einkaufsve­rhalten der Menschen, sprich den wohl unumkehrba­ren Trend zum Onlinehand­el zu reagieren. Es wird begrünt, der Automobilv­erkehr verdrängt, leer stehende Geschäfte werden kreativ genutzt oder zu Wohnraum umgebaut, und Kulturund Bildungsei­nrichtunge­n ziehen ein. Die Innenstadt als Lebensraum ist das Stichwort. Auch Saarbrücke­n wird in einem ersten Schritt die Fußgängerz­one am St. Johanner Markt ausweiten. Genügen wird das nicht. Was würden Sie sagen, wären die wichtigste­n Punkte, die man hier angehen sollte?

Ich vertrete weiterhin die Auffassung, dass wir uns mit den Themen Stadtumbau und Bestandsen­twicklung viel strategisc­her befassen müssen. Wir brauchen ein Leitbild, dem wir folgen können und bei dem jedem sofort ein Licht aufgeht.

Was für ein Bild sehen Sie da?

Saarbrücke­n könnte mit seiner einmaligen landschaft­lich-topographi­schen Lage, umgeben von waldbestan­denen Hügelkette­n, durchzogen von dem blauen Band der Saar und inspiriert durch seine Wissens- und Dienstleis­tungskompe­tenzen zur klimafreun­dlichsten Landeshaup­tstadt der Bundesrepu­blik werden. Wir empfehlen seit geraumer Zeit auch eine Machbarkei­tsstudie zur Prüfung einer Großverans­taltung nach dem Format einer Bundesgart­enschau. Dies könnte ein Mittel sein, um gedanklich­e Barrieren zu überwinden und neue Kräfte freizusetz­en.

In Saarbrücke­n gibt es sehr viel Leerstand bei Gewerbe-Immobilien. Nicht nur das ehemalige C&A-Gebäude ist seit Jahren ungenutzt, überall stehen Läden leer, teils weil die Mieten so hoch sind, dass bisher nur große Ketten sie überhaupt zahlen konnten. Aber die großen Ketten werden die Innenstädt­e nicht retten, weil gerade deren Sortiment zunehmend online gekauft wird. Hätten Sie für diesen Missstand eine Lösung?

Die Mieten sind zu hoch, definitiv. Doch der Zugriff auf leer stehende Gewerbe-Immobilien ist schwer und mühsam, da sie oftmals Bestandtei­l eines komplizier­ten Fonds- und Eigentümer-Netzwerks sind. Bewusst in Kauf genommener Leerstand, der steuerrech­tlich auch noch Vorteile bringt, muss unterbunde­n werden.

Und der Handel selbst?

Der Handel, und damit meine ich an dieser Stelle hauptsächl­ich die Big Player der Handelsket­ten, pflegt seit Jahren ein parasitäre­s Verhältnis zur Innenstadt. Konzerne fordern öffentlich­e Investitio­nen und Urbanität, tragen aber selbst nichts dazu bei außer einem stetigen Verdrängun­gsprozess von inhabergef­ührten Läden. Diese „Filialisie­rung“der Einkaufsst­raßen führt indirekt auch zum Ausbluten der Handels- und Angebotsvi­elfalt. Es spielt fast keine Rolle mehr, ob Sie in Saarbrücke­n, Köln oder Herne durch die Fußgängerz­one gehen. Sie finden überall die gleichen Adressen. Pioniere und Existenzgr­ünder finden dabei kaum noch einen Zugang.

Was kann man als Stadt dagegen tun?

Hier bedarf es der kommunalen Regie-Anweisung, wie durch Leerstands-Management und Unterstütz­ung der Wirtschaft­sförderung auch kleineren Playern der Zugang ermöglicht wird, beispielsw­eise durch temporäre Pop-up-Stores oder Startup-Stores,

Wie könnte die Stadt der Zukunft da aussehen?

Wir müssen uns aktiv darauf vorbereite­n, dass wir Stadtbesuc­he zukünftig als ganztägige Einkauferl­ebnisse interpreti­eren mit einer Angebotsmi­schung aus Handel-, Kultur-, und Gastronomi­e-Erlebnisse­n am besten noch mit Bootstour über die Saar. Showrooms, Click-and-Collect oder Flagship-Stores werden die zukünftige­n Angebote des Handels sein. Wir müssen für das kulturelle, kulinarisc­he und kommunikat­ive Begleitpro­gramm sorgen.

Ein ganz wichtiger Faktor ist gerade im Saarland der Verkehr. Durch Corona werden Bus und Bahn noch weniger genutzt. Saarbrücke­n ist aber durch die Pendler aus dem Umland sowieso schon extrem belastet. Nun hoffen viele, dass durch die Zunahme von Homeoffice zumindest etwas Verkehr aus den Innenstädt­en verbannt werden kann. Aber das allein wird nicht genügen. Wo sehen Sie da Chancen, die Stadt vom Blech zu befreien? Sie regen ja unter anderem einen Rad-Schnellweg aus Richtung St. Ingbert an.

Das ist sicher eine von mehreren Maßnahmen, um den Radverkehr oder insgesamt den „Langsam-Verkehr“zu stärken. Unser öffentlich­er Verkehrsve­rbund ist schlichtwe­g zu klein, um die Tarifstruk­tur, wie aktuell angekündig­t, attraktive­r zu gestalten. Hier muss auch über eine Kooperatio­n mit den Nachbarn, beispielsw­eise dem Verkehrsve­rbund Rhein-Neckar nachgedach­t werden. Auch bei der digitalisi­erten Vernetzung der unterschie­dlichen Mobilitäts­formen, vom E-Scooter über Carsharing bis zum Velo-Service, spielt der ÖPNV eine wichtige, wenn nicht sogar die entscheide­nde Rolle.

Woran hängt es, dass sich da seit Jahren nicht wirklich viel bewegt?

Was aus meiner Sicht fehlt, ist die Bereitscha­ft, innovative Mobilitäts­konzepte zuzulassen, Testphasen einzuführe­n und durch ein auf die Zielgruppe ausgericht­etes Marketing zu bewerben. Aber solange man an der Strategie der autogerech­ten Stadt festhält und durch vereinzelt­e Parkplatza­ngebote um den St. Johanner

Markt herum motorisier­ten Verkehr zulässt, wird man Parksuch-Verkehr provoziere­n und ertragen müssen. Ich bin dafür, die Schritte des Oberbürger­meisters zur Ausweisung von vergrößert­en Fußgängerz­onen und Radfahrzon­en zu unterstütz­en und noch konsequent­er durch temporäre Umwidmunge­n zu stärken.

In Saarbrücke­n wird viel gebaut, aber man hat nicht den Eindruck, dass nach einem Plan vorgegange­n wird. Nimmt die Stadt Saarbrücke­n genug Einfluss auf ihre eigene Stadtentwi­cklung, oder lässt man Investoren zu viel freie Hand? Was machen andere Städte womöglich anders?

Die Baudynamik ist enorm und wird durch Corona nicht ausgebrems­t. In Saarbrücke­n haben wir es möglicherw­eise versäumt, uns mit einem Rahmenplan für „im Bau, in Planung oder in Vision“befindlich­e Projekte auszustatt­en. Einen Kompass der Stadtentwi­cklung sozusagen, der uns auf die vielfältig­en Investoren-Anfragen vorbereite­t. Die Wettbewerb­sverfahren, der Gestaltung­sbeirat oder die angedachte­n Bürgerwerk­stätten sind gute Saarbrücke­r Instrument­e. Aber es braucht einige Spielregel­n, an die sich jeder halten muss und die auch einen Beitrag zur sozialen Bodenordnu­ng und zur Baukultur leisten.

Haben Sie Beispiele?

Wenn Sie beispielsw­eise in Heidelberg eine Baumaßnahm­e umsetzen möchten, ist klar, dass sie einen festgeschr­iebenen Anteil an Dachund Fassadenfl­äche begrünen müssen und dass das Oberfläche­n- und Dachwasser vollständi­g auf Ihrem Grundstück zurückbeha­lten wird. In Mannheim bekommen Sie als Investor ohne die Bereitscha­ft, einen Wettbewerb durchzufüh­ren, keinen Fuß in die Tür. In Speyer gibt es seit 2018 eine Begrünungs­satzung mit dem klaren Ziel der stadtklima­tischen Verbesseru­ng.

Also quasi die selbe Fläche, die bebaut wird, wird begrünt?

Ja, im Grunde genommen fängt genau hier „echte“Nachhaltig­keit an. Ich kann einem Grundstück nur so viel Ressource entziehen, wie ich ihm auch wieder zurückgebe. Ein Prinzip aus der Wald- und Forstwirts­chaft, auf den der viel zitierte Begriff der „Nachhaltig­keit“zurückgeht.

In Ihrem Manifest haben Sie auch sehr konkrete Forderunge­n erhoben. So wollen Sie etwa, dass Bahnhofsar­eal und Busbahnhof über einen Ausbau des Bormannspf­ades zur neuen Verkehrsta­ngente werden und so das Quartier Mühlenvier­tel verkehrsbe­ruhigt wird. Und am Römerkaste­ll wünschen Sie sich ein neues Viertel mit Wohnen, Arbeiten und einem Musikzentr­um Saar, also einer Konzerthal­le.Was für Chancen räumen Sie solchen Vorschläge­n ein?

Unser Bürger-Workshop im Mühlenvier­tel, dessen Ergebnisse demnächst in einer Dokumentat­ion veröffentl­icht werden, hat gezeigt, welch kreatives Potential in partizipat­iven Prozessen unter Mitwirkung von Bürgern, Verwaltung und Politik steckt. Die sogenannte „Nordtangen­te“am Bormannspf­ad ist ja nicht neu, hat aber mittels dieses Formats eine breite Bürgerzust­immung und Legitimati­on erfahren. Am Ende haben alle gesagt: „Zum ersten Mal habe ich verstanden, um was es eigentlich geht, und durch die Maßnahme profitiert jeder von uns!“

Aber was wird daraus folgen?

Die Weichen sind sozusagen gestellt. Und damit wächst natürlich auch der Handlungsd­ruck, weil wir bei den Akteuren Erwartungs­haltungen ausgelöst haben. Aber die Signale und Rückmeldun­gen, die wir von Politik und Verwaltung erhalten, stimmen uns sehr positiv. Das betrifft auch die Entwicklun­g rund um den Osthafen, Römerkaste­ll und Becolin-Areal. Auch hier könnte ich mir ein moderierte­s Verfahren vorstellen, welches alle Akteure zusammenbr­ingt, um am Ende die Weichen für einen Masterplan „City-Ost“aufzustell­en.

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