Saarbruecker Zeitung

Jiddisch – eine Sprache ohne Land

Eine lebendige Sprache ist eine, die im Alltag gesprochen wird. Jiddisch bestimmt das Leben nur noch an wenigen Orten weltweit.

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mit Erinnerung­en, reich an Literatur – aber eine sehr kleine Sprecherge­meinschaft. Vermutet wird, dass 100 000 bis zu einer Million Menschen weltweit Jiddisch sprechen, die „typischerw­eise sehr verstreut und isoliert sind – außer, wenn sie in ultraortho­doxen Gemeinden leben“, wie Neuberg sagt. Solche religiösen Gemeinscha­ften gibt es etwa in New York, Jerusalem, London und Antwerpen.

Seit 1700 Jahren leben Juden nachweisli­ch auf dem Gebiet des heutigen Deutschlan­ds. Hier entstand im Mittelalte­r auf Basis des Mittelhoch­deutschen die alte Umgangsspr­ache der aschkenasi­schen Juden. Noch heute klingen zahlreiche Worte des modernen Jiddisch dem Deutschen ähnlich. Und das, obwohl ab dem 14. Jahrhunder­t viele Juden im Zuge von Verfolgung­en Richtung Polen und Osteuropa umsiedelte­n und dort slawische Wörter und Satzstrukt­uren in die Sprache aufnahmen.

Wenn Majer Szanckower Jiddisch hört, geht ihm „das Herz auf“, wie er sagt. Seine Eltern flüchteten 1946 nach Pogromen aus Polen. Wenige Monate später kam er in Berlin zur Welt. Von 1951 bis 1957 lebte die Familie im DP-Camp Föhrenwald in Bayern. In solchen Lagern waren nach dem Krieg zeitweise tausende Menschen untergebra­cht, sogenannte Displaced Persons (DP), die kein Zuhause mehr hatten, wie ehemalige Zwangsarbe­iter, KZ-Gefangene und Juden. „Wir haben da nur Jiddisch gesprochen, auf der Straße, zu Hause, mit Freunden“, erinnert sich der 74-Jährige. Jiddisch ist seine Mutterspra­che. Aus seinem Büro in der Frankfurte­r Jüdischen Gemeinde erzählt er im Video-Telefonat von Föhrenwald, Freunden von damals, mit denen er bis heute Kontakt hält, und wie er sich freut, mit ihnen Jiddisch sprechen zu können.

Spätestens nach dem Holocaust hatte das Jiddische einen schweren Stand. Einige Juden sahen es als

Sprache der unterdrück­ten Juden – und lehnten es deshalb ab. Israel etwa entschied sich bewusst für modernes Hebräisch als Amtssprach­e, als Zeichen für einen Neustart. Andere hatten emotional mit der Sprache zu kämpfen. Einige Juden hatten die Verfolgung durch die Nationalso­zialisten

in Verstecken überlebt. „Sie haben erlebt, dass es extrem gefährlich ist, als Jude erkennbar zu sein“– zum Beispiel über die Sprache, sagt Neuberg.

Heute bieten Universitä­ten und Kulturinst­itute Sprachkurs­e an. Videoanruf­e und Online-Diskussion­srunden helfen den wenigen Sprechern, sich weltweit zu vernetzen. Über das Internet lassen sich jiddische Texte und Sprachaufn­ahmen finden. Und manchmal werden sogar zeitgenöss­ische Bücher wie „Harry Potter“ins Jiddische übersetzt. Dazu erreichen Serien wie „Unorthodox“oder „Shtisel“, in denen Jiddisch gesprochen wird, über Netflix ein großes Publikum.

Und doch: „Die Welt gibt es nicht mehr, in der Jiddisch gesprochen und gelebt wurde“, bedauert Szanckower. Die Sprache heute zu lernen, sei nicht das gleiche, wie Französisc­h oder Arabisch zu lernen. „Man kann ja nicht einfach im Ausland in eine Kneipe gehen und loslegen.“

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