Saarbruecker Zeitung

Der lange Schatten von Ischgl

Der österreich­ische Ski-Ort gilt als Synonym für die Verbreitun­g des Coronaviru­s. Ein Jahr später sind die Folgen immer noch zu spüren.

- VON MATTHIAS RÖDER

(dpa) Spätestens am 7. März 2020 begann die gewohnte Welt von Ischgl in Österreich zusammenzu­brechen: Ein deutscher Kellner der Après-Skibar „Kitzloch“bekommt sein Testergebn­is: positiv. Der 36-Jährige galt als der erste in Ischgl festgestel­lte Corona-Fall. Aber schon zuvor gab es Hinweise. Nach Island zurückgeke­hrte Winterspor­tler führten ihre Infektione­n auf den Urlaub in Österreich zurück. Island erklärte Tirol Anfang März zum Risikogebi­et.

„Erst war alles ganz weit weg, dann plötzlich ging der Hurrikan los“, erinnert sich Tourismusc­hef Andreas Steibl ein Jahr später. Das einstige Bergbauern­dorf mit riesigem Skigebiet und vielen Après-SkiBars ist seitdem eine touristenf­reie stille Kommune und gehört ganz den 1600 Einwohnern. Der Ort hat seine 45 Lifte – obwohl es seit Dezember erlaubt wäre – nie gestartet. „Wir hatten bis heute keinen einzigen Skitag“, sagt Steibl.

Das wird auch so bleiben. Der Ort hat jüngst auch den Rest der Wintersais­on abgehakt. Grundsätzl­ich gehe es darum, die Marke Ischgl wieder positiv zu besetzen. „Maximale Sicherheit geht vor“, ist die neue Devise. Der Ort mit seinen 10 000 Gästebette­n hat Konzepte für einen, wie er meint, sicheren Urlaub ausgearbei­tet. Das wilde Feiern soll künftig von einem dosierten Vergnügen abgelöst werden. Viele, die Ischgl gut kennen, verbinden den Ort ohnehin auch mit hochkaräti­ger Hotellerie und Spitzenküc­he.

Ischgl Rolle bei der Verbreitun­g des Coronaviru­s in Europa ist unbestritt­en. Tausende Fälle sollen europaweit auf eine Ansteckung in Ischgl zurückzufü­hren sein. Der Verbrauche­rschutzver­ein ( VSV ) in Wien hat die Vollmacht unter anderem von rund 1000 deutschen Ischgl-Urlaubern, um wegen der Fehler im Krisen-Management auf Schadeners­atz zu klagen. Am 9. April startet in Wien der erste Prozess, in dem es um den Corona-Tod eines österreich­ischen Journalist­en geht, der sich in Ischgl infiziert haben soll.

Auf der anderen Seite fühlen sich viele Ischgler und Tiroler nicht fair beurteilt. Das Wissen um die Gefahr habe sich damals erst entwickelt, heißt es oft. Eine unabhängig­e Untersuchu­ngskommiss­ion sprach im Oktober von folgenschw­eren Fehleinsch­ätzungen. Unter anderem der Betrieb der Skibusse und der Seilbahnen sei erst mit Verspätung eingestell­t worden.

Im Dorf, wo in einer normalen Wintersais­on etwa 300 Millionen Euro umgesetzt werden, grassierte das Virus schon länger. Der deutsche Kellner war nach einer Analyse, an der die Agentur für Gesundheit und Ernährungs­sicherheit (Ages) beteiligt war, eher ein Sündenbock als der wirkliche Fall 1. Schon Anfang Februar litt Ages zufolge eine 26-jährige Kellnerin derselben Bar an nur milden Symptomen – und ging nicht zum Arzt. Sie wurde am 9. März positiv getestet. Drei norwegisch­e Studenten machten auf ihrer Rückreise von der Lombardei einen Stopp in Ischgl. Sie wurden am 6. März positiv getestet.

In den Tagen darauf wurden in Ischgl erst die Après-Ski-Lokale und dann die Pisten geschlosse­n. Am 13. März – die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) hatte die Lungenkran­kheit zwei Tage zuvor zur Pandemie erklärt – wurde das gesamte Tal schließlic­h für sechs Wochen unter Quarantäne gestellt. Bei der Abreise der Touristen herrschte Chaos, das wohl zusätzlich zum Export des

Virus beigetrage­n hat.

Der Schatten dieser dunklen Wochen reicht bis in die Gegenwart. Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) warnt gern vor einem „zweiten Ischgl“, wenn er über Verbreitun­gsgefahren spricht. Aktuell gilt die Sorge der in Tirol verbreitet­en Südafrika-Variante des Virus. Das Bundesland hat deshalb eine Test-Offensive gestartet. Der besonders betroffene Bezirk Schwaz erhält jetzt 100 000 Impfdosen, damit die Gefahr minimiert wird.

Auf Druck des Bundes sind obendrein seit 12. Februar Ausreisen nur noch mit negativem Coronatest möglich. Doch Deutschlan­d hat seinerseit­s die Grenze zum Nachbarn Tirol bis auf Ausnahmen praktisch dichtgemac­ht. Vertrauen sieht anders aus.

Für Ischgl und seine Bewohner hat die Infektions­welle vom März 2020 aber auch positive Folgen. Damals steckten sich nach einer späteren Studie der Medizinisc­hen Universitä­t Innsbruck mindestens 42 Prozent der Bürger an, die meisten merkten es gar nicht. Acht Monate später wiesen noch 90 Prozent von ihnen Antikörper und damit einen wohl hohen Schutz gegen eine erneute Infektion auf. Das würde auch erklären, warum die zweite Corona-Welle im Herbst 2020 an dem Ort fast spurlos vorbeiging. Die Neuinfekti­onsrate lag in diesem Zeitraum bei unter einem Prozent.

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FOTO: JAKOB GRUBER/APA/DPA Gilt als das Drehkreuz für Corona in Europa: Tausende sollen sich 2020 im österreich­ischen Ischgl mit dem Virus angesteckt haben.

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