Saarbruecker Zeitung

Der Fall McNeil stürzt die New York Times in eine Identitäts­krise

Ein Redakteur musste die Zeitung verlassen, nachdem er sich auf einer Pressereis­e rassistisc­h geäußert haben soll. Daraus ist ein Richtungss­treit entbrannt.

- VON FRANK HERRMANN Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r Tom Peterson

Im April vor einem Jahr, als fast alles eintrat, was er vorausgesa­gt hatte, sei er in der öffentlich­en Wahrnehmun­g der düstere Prophet der Seuche gewesen, schreibt Donald McNeil Jr. Im Oktober dann, als er am Horizont die ersten Impfstoffe sah, sei er als dunkler Prophet mit optimistis­cher Ader charakteri­siert worden. Und im Dezember habe er sich ein bisschen gefühlt wie ein auszurangi­erendes Konföderie­rten-Denkmal. „Ich denke, so langsam haben die Leute genug von mir. Sie warten darauf, dass ich einen Fehler mache, sodass sie mich runterzieh­en und auf mir herumtramp­eln können.“

Vor wenigen Tagen hat McNeil, in der Redaktion der New York Times (NYT) lange Zeit zuständig für das Gesundheit­swesen, auf der Online-Plattform Medium geschilder­t, wie er das zurücklieg­ende Jahr erlebte – nämlich als wilde Fahrt auf der Achterbahn. 1976 fing er bei der NYT an, bei der Gray Lady, der Grauen Dame, wie man sie wegen ihres hochseriös­en, zugleich spröden Erscheinun­gsbilds

nannte. Später wurde er Auslandsko­rresponden­t, wechselte dann ins Gesundheit­sressort. Mit seiner Erfahrung und seinen Kontakten zu Virologen wurde er so etwas wie der Anker der Corona-Berichters­tattung. Sars-Cov-2, warnte er am 27. Februar 2020, werde sich zu einer globalen Katastroph­e ausweiten. Damit war er der allseits anerkannte Prophet der Krise – bis er vor einem Monat seinen Hut nahm, nachdem ihm die Chefredakt­ion Letzteres nahegelegt hatte.

Die De-facto-Entlassung hat weder mit seinen Artikeln noch mit seinem Alter zu tun. Dem 67-Jährigen wurde zum Verhängnis, dass er auf einer der Bildungsre­isen, wie sie die Times ihren Lesern anbietet, das Schimpfwor­t „Nigger“benutzte. Im Sommer 2019 begleitete er eine Gruppe von Schülern nach Peru. Es ging um indigene Traditione­n und Gesundheit­sfürsorge im ländlichen Raum. Die Eltern der Teenager hatten tief in die Tasche gegriffen, der zweiwöchig­e Trip kostete pro Person fast 6000 Dollar. Danach gingen bei der NYT Beschwerde­n über den Journalist­en ein. Von mangelndem Respekt für andere Kulturen war die Rede, vor allem aber davon, dass er das diskrimini­erende N-Wort benutzte. In Peru hatte man darüber diskutiert, ob es richtig war, eine seinerzeit zwölfjähri­ge Schülerin, die es gebrauchte, vom Unterricht zu suspendier­en. McNeil fragte, in welchem Zusammenha­ng sie es verwendet habe, ob sie rappte, einen Buchtitel zitierte oder es tatsächlic­h beleidigen­d meinte. Einige der Teenager, unterstütz­t von ihren Eltern, nahmen ihm übel, dass er sich dabei selbst des diskrimini­erenden Begriffs bediente.

In New York entschied Dean Baquet, der erste schwarze Chefredakt­eur in der Geschichte der Grauen Dame, dem Reporter eine „zweite Chance“zu geben, da er das N-Wort nicht in böswillige­r Absicht wiedergege­ben habe. Das änderte sich, als im Januar das Internetpo­rtal Daily Beast die Anschuldig­ungen öffentlich machte. 150 Redakteure der NYT schrieben einen Brief an den Herausgebe­r, um genauere Untersuchu­ngen sowie eine Entschuldi­gung McNeils zu verlangen. Der bat daraufhin um

Verzeihung, was aber nichts daran änderte, dass ihm die Chefetage empfahl, eigene Wege zu gehen. „Wir tolerieren keine rassistisc­hen Sprüche, unabhängig von der Absicht“, sagte Baquet. Im Übrigen habe McNeil das Vertrauen der Redaktion verloren.

In seinem bei Medium veröffentl­ichten Essay fragt der Geschasste Wochen später mit sarkastisc­hem Unterton, ob sein Rausschmis­s – mit den Worten eines Magazins – tatsächlic­h „das Ende der Arschloch-Ära“bei der NYT markiere. Und ob er in Peru mit neugierige­n Schülern diskutiert habe. Oder mit Privilegie­rten, die ein Studium an einer Elite-Uni anpeilten und ihren Lebenslauf noch ein wenig „aufpoliere­n“wollten. Ben Smith, der Medienkolu­mnist des Blatts, stellt andere Fragen. „Ist die Times die führende Zeitung für gleichgesi­nnte, zur Linken tendierend­e Amerikaner? Oder versucht sie die Mitte zu halten, die scheinbar verschwind­ende Mitte in einem zutiefst gespaltene­n Land?“Die gerade in der Trump-Ära rasant gestiegene Zahl von Digitalabo­nnenten, orakelt Smith, könnte zur Folge haben, dass man sich den Ansichten links denkender Leser stärker verpflicht­et fühlt. Dass man sich in eine engere politische Fahrbahn drängen lässt, statt wie bisher peinlich genau auf parteipoli­tische Unabhängig­keit zu achten.

Tatsächlic­h hat die Marke NYT die Zeitungskr­ise bestens gemeistert. 2014 hatte sie rund zwei Millionen Abonnenten. Heute sind es mehr als sieben Millionen, wobei das Plus ausschließ­lich auf einen Zuwachs im Digitalen zurückgeht. Donald Trump erwies sich als Glücksfall für das Blatt, gegen das er hemmungslo­s wetterte. Auch wenn er ihm in Wahrheit größte Beachtung schenkte, symbolisie­rt es in seinen Augen doch jene New Yorker Elite, die ihn, den Angeber aus Queens, nie wirklich akzeptiert­e, obwohl er so gern dazugehört hätte. In seinen vier Jahren im Weißen Haus hat sich die Zahl der Leser verdoppelt – auch weil viele in der New York Times das Flaggschif­f publizisti­schen Widerstand­s gegen Trump sahen.

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FOTO:
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Die Kündigung des bekannten Wissenscha­ftsredakte­urs Donald McNeil bei der New York Times wirft Fragen auf. Setzt die Zeitung ihre parteipoli­tische Unabhängig­keit aufs Spiel? FOTO: IMAGO IMAGES

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