Muss das Saarland bald die Notbremse ziehen?
Ab diesem Dienstag gibt es wieder mehr Freiheiten. Die Landesregierung will zurück zum Lockdown, wenn eine Überlastung der Kliniken droht. Klare Kriterien dafür gibt es nicht.
Begleitet von erheblichem Unmut aus der Bundespolitik schaltet die saarländische Landesregierung an diesem Dienstag ihre Corona-Ampel auf Grün. Die entscheidende Frage ist, wie lange die neuen Freiheiten bestehen bleiben werden. Denn für den Fall einer „drohenden Überlastung des Gesundheitswesens“will die Regierung die Ampel auf Rot stellen und einen „konsequenten Lockdown“verhängen. Dieses Kriterium ist so wachsweich, dass bisher niemand weiß, was eigentlich passieren müsste, damit die Notbremse gezogen wird.
Das Saarland vollzieht damit einen Paradigmenwechsel. Anders als auf Bundesebene vereinbart, richtet das Land seine Maßnahmen nicht mehr nur an der Sieben-Tage-Inzidenz aus, sondern auch an der Auslastung der Kliniken. Dazu hat nicht zuletzt das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes die Regierung gedrängt. Als die Richter am 9. März die Schließung des Einzelhandels kippten, begründeten sie das auch damit, dass die Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems ein zentrales Ziel der Corona-Politik sei, die Intensivstationen im Saarland die Belastungsgrenze aber nicht erreicht hätten. Damals waren nach der amtlichen Statistik 97 der rund 450 Intensivbetten frei, heute sind es 86.
Trotzdem ist die Situation kaum vergleichbar. Im März lag die Inzidenz konstant um die 60, seit Ende März steigt der Wert, am Montag lag er bei 91,3. Die 100er-Marke könnte nach Berechnungen des Saarbrücker Pharmazie-Professors Torsten Lehr in dieser Woche erreicht werden. Bleibt die Inzidenz drei Tage über 100, springt die Corona-Ampel auf Gelb. Die Folge wäre zunächst eine Ausweitung der Testpflicht auf den Einzelhandel (außer Lebensmittelgeschäfte), keine Schließungen.
In den kommenden Wochen wird man dann sehen, ob Lehr mit seinen ständigen Warnungen vor steigenden Werten Recht behält. Oder jene Berliner Forscher, denen die Landesregierung inzwischen mehr zu vertrauen scheint, die sagen: Regelmäßige Tests können, wenn alle mitmachen, die Ausbreitung des Virus deutlich bremsen, weil Infizierte ohne Symptome, die andernfalls gar nicht aufgefallen wären, aus dem Verkehr gezogen werden und niemanden mehr anstecken können.
Die Landesregierung ist zuversichtlich, dass die Notbremse so schnell nicht gezogen werden muss. Doch ist derzeit nicht absehbar, wie wie sich die Belegung der Intensivstationen entwickelt. Sie steigt seit einigen Wochen, wenn auch langsam. 80 Prozent der Intensivbetten und 60 Prozent der Beatmungsplätze sind derzeit belegt (in jedem achten der Betten liegt ein Covid-Patient). Auf dem Saarbrücker Winterberg heißt es, es gebe „aktuell vermehrt intensiv-pflichtige Patienten“,
am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg sind die Intensivstationen nach Auskunft des Leitenden Oberarztes Professor Philipp Lepper bereits voll belegt.
Landesweit werden derzeit 53 Covid-Patienten auf Intensivstationen
behandelt. Das sind zwar immer noch deutlich weniger als auf dem Höhepunkt im Januar (87), aber auch deutlich mehr als noch Mitte März (32). Die Saarländische Krankenhausgesellschaft blickt daher „besorgt“auf das Saarland-Modell und die dritte Welle. „Wir sehen in den Kliniken mit einer Verzögerung von drei bis vier Wochen, wie sich das aktuelle Infektionsgeschehen auswirkt“, sagte Geschäftsführer Thomas Jakobs.
Die Schwierigkeit ist, dass die Landesregierung zwar festgelegt hat, bei einer drohenden Überlastung des Gesundheitswesens die Notbremse zu ziehen, aber keine festen Kriterien dafür. Jeden Tag werde eine
Vielzahl von Kennziffern beobachtet, erklärt die Staatskanzlei.
Die Unsicherheit ist groß. Es gibt Gastronomen, die vorerst nicht öffnen wollen, weil sie fürchten, dass die Ampel ohnehin bald auf Rot springt und sie dann wieder schließen müssen. Für Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) und die Landesregierung, die ein hohes politisches Risiko eingehen, wäre es eine Blamage, bei den Corona-müden Landsleuten erst Hoffnungen auf neue Freiheiten geweckt zu haben und diese Tage später wieder einkassieren zu müssen. Das sehen die Grünen bereits kommen und werfen Hans ein „Kommunikationsdesaster“vor. Auch in der SPD gibt es solche Stimmen. Auf der anderen Seite machen Linke, AfD und FDP Druck, an den Öffnungen unbedingt festzuhalten, auch bei steigenden Inzidenzwerten.
Am Ende könnte es einen Lockdown geben, obwohl die Landesregierung ihn gar nicht will. Im Bund gibt es starke Bestrebungen, die Corona-Maßnahmen per Gesetz bundeseinheitlich zu regeln. Selbst wenn es dazu kurzfristig nicht mehr kommen sollte: Wenn sich Kanzlerin und Ministerpräsidenten in den nächsten Tagen auf einen harten Lockdown verständigen, worauf einiges hindeutet, scheint kaum vorstellbar, dass sich Hans als einziger widersetzt und im Saarland alles offen lässt – damit würde er das Land politisch isolieren, zu einem möglicherweise hohen politischen Preis. Ihm bliebe dann wohl nur, den Lockdown mit der „drohenden Überlastung des Gesundheitswesens“im Saarland zu begründen. Verbindliche Kriterien, mit denen das überprüft werden könnte, würden ihm das erschweren.