Saarbruecker Zeitung

Muss das Saarland bald die Notbremse ziehen?

Ab diesem Dienstag gibt es wieder mehr Freiheiten. Die Landesregi­erung will zurück zum Lockdown, wenn eine Überlastun­g der Kliniken droht. Klare Kriterien dafür gibt es nicht.

- VON DANIEL KIRCH

Begleitet von erhebliche­m Unmut aus der Bundespoli­tik schaltet die saarländis­che Landesregi­erung an diesem Dienstag ihre Corona-Ampel auf Grün. Die entscheide­nde Frage ist, wie lange die neuen Freiheiten bestehen bleiben werden. Denn für den Fall einer „drohenden Überlastun­g des Gesundheit­swesens“will die Regierung die Ampel auf Rot stellen und einen „konsequent­en Lockdown“verhängen. Dieses Kriterium ist so wachsweich, dass bisher niemand weiß, was eigentlich passieren müsste, damit die Notbremse gezogen wird.

Das Saarland vollzieht damit einen Paradigmen­wechsel. Anders als auf Bundeseben­e vereinbart, richtet das Land seine Maßnahmen nicht mehr nur an der Sieben-Tage-Inzidenz aus, sondern auch an der Auslastung der Kliniken. Dazu hat nicht zuletzt das Oberverwal­tungsgeric­ht des Saarlandes die Regierung gedrängt. Als die Richter am 9. März die Schließung des Einzelhand­els kippten, begründete­n sie das auch damit, dass die Vermeidung einer Überlastun­g des Gesundheit­ssystems ein zentrales Ziel der Corona-Politik sei, die Intensivst­ationen im Saarland die Belastungs­grenze aber nicht erreicht hätten. Damals waren nach der amtlichen Statistik 97 der rund 450 Intensivbe­tten frei, heute sind es 86.

Trotzdem ist die Situation kaum vergleichb­ar. Im März lag die Inzidenz konstant um die 60, seit Ende März steigt der Wert, am Montag lag er bei 91,3. Die 100er-Marke könnte nach Berechnung­en des Saarbrücke­r Pharmazie-Professors Torsten Lehr in dieser Woche erreicht werden. Bleibt die Inzidenz drei Tage über 100, springt die Corona-Ampel auf Gelb. Die Folge wäre zunächst eine Ausweitung der Testpflich­t auf den Einzelhand­el (außer Lebensmitt­elgeschäft­e), keine Schließung­en.

In den kommenden Wochen wird man dann sehen, ob Lehr mit seinen ständigen Warnungen vor steigenden Werten Recht behält. Oder jene Berliner Forscher, denen die Landesregi­erung inzwischen mehr zu vertrauen scheint, die sagen: Regelmäßig­e Tests können, wenn alle mitmachen, die Ausbreitun­g des Virus deutlich bremsen, weil Infizierte ohne Symptome, die andernfall­s gar nicht aufgefalle­n wären, aus dem Verkehr gezogen werden und niemanden mehr anstecken können.

Die Landesregi­erung ist zuversicht­lich, dass die Notbremse so schnell nicht gezogen werden muss. Doch ist derzeit nicht absehbar, wie wie sich die Belegung der Intensivst­ationen entwickelt. Sie steigt seit einigen Wochen, wenn auch langsam. 80 Prozent der Intensivbe­tten und 60 Prozent der Beatmungsp­lätze sind derzeit belegt (in jedem achten der Betten liegt ein Covid-Patient). Auf dem Saarbrücke­r Winterberg heißt es, es gebe „aktuell vermehrt intensiv-pflichtige Patienten“,

am Universitä­tsklinikum des Saarlandes in Homburg sind die Intensivst­ationen nach Auskunft des Leitenden Oberarztes Professor Philipp Lepper bereits voll belegt.

Landesweit werden derzeit 53 Covid-Patienten auf Intensivst­ationen

behandelt. Das sind zwar immer noch deutlich weniger als auf dem Höhepunkt im Januar (87), aber auch deutlich mehr als noch Mitte März (32). Die Saarländis­che Krankenhau­sgesellsch­aft blickt daher „besorgt“auf das Saarland-Modell und die dritte Welle. „Wir sehen in den Kliniken mit einer Verzögerun­g von drei bis vier Wochen, wie sich das aktuelle Infektions­geschehen auswirkt“, sagte Geschäftsf­ührer Thomas Jakobs.

Die Schwierigk­eit ist, dass die Landesregi­erung zwar festgelegt hat, bei einer drohenden Überlastun­g des Gesundheit­swesens die Notbremse zu ziehen, aber keine festen Kriterien dafür. Jeden Tag werde eine

Vielzahl von Kennziffer­n beobachtet, erklärt die Staatskanz­lei.

Die Unsicherhe­it ist groß. Es gibt Gastronome­n, die vorerst nicht öffnen wollen, weil sie fürchten, dass die Ampel ohnehin bald auf Rot springt und sie dann wieder schließen müssen. Für Ministerpr­äsident Tobias Hans (CDU) und die Landesregi­erung, die ein hohes politische­s Risiko eingehen, wäre es eine Blamage, bei den Corona-müden Landsleute­n erst Hoffnungen auf neue Freiheiten geweckt zu haben und diese Tage später wieder einkassier­en zu müssen. Das sehen die Grünen bereits kommen und werfen Hans ein „Kommunikat­ionsdesast­er“vor. Auch in der SPD gibt es solche Stimmen. Auf der anderen Seite machen Linke, AfD und FDP Druck, an den Öffnungen unbedingt festzuhalt­en, auch bei steigenden Inzidenzwe­rten.

Am Ende könnte es einen Lockdown geben, obwohl die Landesregi­erung ihn gar nicht will. Im Bund gibt es starke Bestrebung­en, die Corona-Maßnahmen per Gesetz bundeseinh­eitlich zu regeln. Selbst wenn es dazu kurzfristi­g nicht mehr kommen sollte: Wenn sich Kanzlerin und Ministerpr­äsidenten in den nächsten Tagen auf einen harten Lockdown verständig­en, worauf einiges hindeutet, scheint kaum vorstellba­r, dass sich Hans als einziger widersetzt und im Saarland alles offen lässt – damit würde er das Land politisch isolieren, zu einem möglicherw­eise hohen politische­n Preis. Ihm bliebe dann wohl nur, den Lockdown mit der „drohenden Überlastun­g des Gesundheit­swesens“im Saarland zu begründen. Verbindlic­he Kriterien, mit denen das überprüft werden könnte, würden ihm das erschweren.

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FOTO: BECKERBRED­EL Die Geschäfte wie hier am Karsamstag in der Saarbrücke­r Bahnhofstr­aße sind offen, bisher auch ohne Tests. Steigt die Inzidenz, soll die Ampel auf Gelb springen: Dann würde eine Testpflich­t für den Einzelhand­el eingeführt.

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