Wie Walter als Waltraud mit Lilly das Glück fand
Als erste Transfrau des Saarlandes war die kürzlich verstorbene Waltraud Schiffels (76) eine politische Figur, bekannt wie ein bunter Hund. Doch seit Jahren lebte sie nur noch für Lilly Schumann (85). Die erzählt, warum.
SAARBRÜCKEN Saarbrücken hatte Anfang der 90er Jahre seine Sensation. Wer dabei war, erinnert sich an das eigene Befremden. Walter trug plötzlich strahlendes Blond, ziemlich viel Make-up, seidig glänzende Blusen und schwingende Röcke. Unverändert war: Er flirtete immer noch so hinreißend wie eh und je, war warmherzig-herzlich, zugewandt. Bei unverhofften Begegnungen wusste man nicht, wohin mit der eigenen Verlegenheit und all der Neugier. Weil ja längst Stadtgespräch war, was „der Schiffels“von der Volkshochschule Saarbrücken da in Gang gesetzt hatte: eine „Geschlechtsumwandlung“. Um Himmels Willen, ein verheirateter Mann! Man wusste nichts und spekulierte umso mehr – über Walters angebliche Homosexualität und sein Transvestitentum. Dabei hätte man Waltraud, wie Walter nun hieß, einfach frei heraus fragen können, sie hätte ebenso frank und frei Antwort gegeben. So, wie sie es später in unzähligen Talkshows und ihren Büchern tat, sie hießen „Im falschen Körper“(1991) oder „Im Rock“(1990).
Es war die stolze Euphorie über die neue Identität, die Waltraud dazu brachte,, die „totale Öffentlichkeit“zu suchen, so beschrieb sie es 2010 in einem Interview mit den „Saarbrücker Heften“und schilderte den Zustand 1989/90 nach Alkoholentzug und Operation als einen Rausch: „Ich war bekannt wie ein bunter Hund.“In einer Saarbrücker Schwulenkneipe konnte man sich damals sogar eine „Waltraud“bestellen, einen antialkoholischen Cocktail.
All das ging an Lilly vorbei, geschieden, zwei Kinder, Hauptschullehrerin in Homburg, literarisch gebildet – und talentiert. Als sie 2002, nachdem sie 1997 nach Saarbrücken umgezogen war, in Waltrauds Schreibwerkstatt in der VHS ging, lag deren Aktivistinnen-Hoch-Phase bereits hinter ihr. Und 19 Jahre unverhofftes PaarGlück vor den beiden Frauen. Die gaben sich 2008 das Ja-Wort, „verpartnerten“sich. Das gemeinsame Leben endete jäh im Februar 2021, Corona-brutal. Waltraud, seit Kindertagen schwer lungenkrank, bekam samstags schweren Husten, hielt ihn für einen der typischen Schübe, wollte in Corona-Tagen nicht zum Arzt, quälte sich. Mittwochs rief Lilly doch den Notarzt: „Ich durfte sie nur bis zum Krankenwagen begleiten“, sagt sie, „dann war sie weg“. Lilly (85) braucht eine lange Pause, bis sie wieder beginnt: „Drei
Stunden später rief die Klinik an, sie sei tot. Es war das Herz.“
Lilly lebt immer noch in einem Schockzustand, doch sie ist klug genug, das zu tun, was hilft: Waltraud durch Erzählungen wieder heran zu holen, so nah und so perfekt, wie es eben geht, ganz im Sinne des JeanPaul-Spruchs: Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Also hört man von Lilly Schumann ausschließlich sonnige Schilderungen über ihre Partnerschaft, für die, selbst dann, wenn Verklärung und Idealisierung im Spiel sein sollten, altmodische Begriffe wie gemacht scheinen: Innigkeit, romantische Liebe, Seelenverwandtschaft. Moderner gesprochen hatten die beiden offensichtlich das, was man eine gleichberechtigte, harmonische Partnerschaft nennt: „Wir waren friedlich miteinander“, sagt Lilly und meint, in einer Beziehung zu einem Mann gebe es immer „kleine Macht-Geschichten“, die mit Waltraud nie aufgekommen seien: „Es war wohltuend.“Oder, noch anders gesprochen: „Wir haben uns gegenseitig glücklich gemacht“. Dafür steht ein Ritual. Lilly, als Kind süchtig danach, dass man ihr vorliest, findet in Waltraud eine begabte Vorleserin: „Ich liebte ihre Stimme.“Also nahm Waltraud möglichst jeden Abende ein Buch zur Hand, während Lilly stickte, oft vergingen dann zwei Stunden. Den gesamten Charles Dickens schafften die beiden und zweimal Thomas Manns „Zauberberg“, um nur einige der kolossalen Wälzer zu nennen. Ein Poesiealbum-Idyll? Mit ihrem Sinn für ironische Distanz hätte Waltraud das kaum durchgehen lassen, für sie war Lilly „die Rose im Gemüsebeet“.
Doch wie fing diese späte Liebe an? „Waltraud war bezaubernd und souverän“, schildert Lilly Schumann (85) den ersten Eindruck ihrer VHS-Dozentin. Wie sie sich dann langsam aber unwiderruflich verliebte, als 70-Jährige ohne lesbische Erfahrungen – das hatte nichts mit Skandal und Drama zu tun, sondern mit Interessen-Gleichklang und Lillys fürsorglichem Wesen. Noch bevor sie ein Paar wurden, kümmerte sich Lilly um die mitunter bettlägerige Dozentin. Die beiden Frauen teilten die Liebe zu Literatur und Musik, sie schrieben beide gerne, Lilly unter Anleitung von Waltraud
immer professioneller und systematischer. Mittlerweile hat sie drei Bücher veröffentlicht. Offensichtlich hatten da zwei Menschen wie Puzzleteilchen aufeinander gewartet, um sich einzuklinken und festzuhalten. La vie en rose, alles rosarot? Kaum zu glauben. Selbst Lillys Umfeld reagierte stressfrei, ja liebevoll: „Wie schön für dich!“, meinten Sohn und Tochter, als Lilly von ihrem Verliebtsein berichtete, von da an fuhren die Kinder zu Besuch zu ihren „zwei Müttern“. Für Lilly selbst war die Beziehung zu einer Frau kein Grund für intensivere Selbstbefragungen: „Waltraud hat mir einfach als Mensch imponiert, es war alles ganz selbstverständlich. Wir haben auch niemals Anstoß erregt oder Diskriminierung erlebt.“
Womöglich weil Waltraud den Weg geebnet hatte? Die politische Figur an ihrer Seite lernte Lilly erst kennen, als sie sich eines von Waltrauds Büchern kaufte. Doch das Politische ihrer gleichgeschlechtlichen Lebensform spielte im gemeinsamen Alltag keine Rolle mehr, die Schwulen-, die Gender-Bewegung – alles entrückte: „Die Öffentlichkeit war ihr nicht mehr wichtig“, sagt Lilly. Stattdessen kamen für Waltraud alte Leidenschaften zurück, das Zeichnen, und allen voran das Schiffsmodelle-Sammeln. Die aktuelle Situation besprachen die beiden Frauen aber sehr wohl: „Wir waren der Meinung, dass nicht immer diese existentielle Frage dahintersteht wie bei Waltrauds Entscheidung, sondern dass eine fragwürdige Modeerscheinung alles Normale fast verächtlich beurteilt, während das Außerordentliche in gewissen Punkten hochgeputscht wird.“Den Umgang mit dem Thema hätten sie „gelegentlich leichtfertig“empfunden: „Auch die Beurteilung der Aussagen von Wolfgang Thierse durch Kevin Kühnert und andere schien uns mehr oder weniger bewusst fehl gedeutet.“
Waltraud war vor 30 Jahren einen anderen Weg gegangen, sie trat nicht konfrontativ-provokant oder gar ideologisch-belehrend auf, stattdessen empathisch, authentisch, schonungslos intim. Weil es ihr um mehr ging als um sexuelle Orientierung, um zutiefst Menschliches: Sie schrieb und redete um ihr Leben. Es ging um die kränkenden, schlimmen Erfahrungen mit der Mutter, einer Neurologin, der ihr lungenkrankes Kind wegen monatelanger Klinikaufenthalte fremd blieb. Später war da eine in feindlicher Zerrüttung endende Ehe, der Alkoholismus, die Erfahrungen als Transvestit und als Domina im Prostituiertenmilieu. Harter Tobak, unerhört angesichts eines kultivierten Menschen aus dem Bildungsbürger-Milieu. Dr. Waltraud Schiffels, die Germanistin, behielt ihren Posten als Fachbereichsleiterin Kultur an der Volkshochschule.
Wie viel Mut dazu gehörte, wie viel Leidensbereitschaft und wie viel Widerstands-Kampfkraft – das wussten damals nur ähnlich Betroffene aus der Schwulen- und Trans-Szene, und sie machten Waltraud zur Vorzeige-Transfrau. Zu einer, die das Thema endlich aus der Schmuddelecke zu holen vermochte. Heute hält Lilly die Erinnerung an all das wach. „Es hilft, wenn ich an sie denke und über sie spreche“, sagt sie und berichtet von Briefen, die sie ungeahnt hoher Zahl erreichen, von Menschen, die sich für das „leuchtende Vorbild“Waltrauds bedanken. Auch Lilly kann dankbar sein: Nicht viele hüten im Paradies ihrer Erinnerungen ein Juwel: eine Liebe ihres Lebens – reines Glück.
Ein Interview mit dem Schwulen- und Lesbenverband folgt morgen.