Willkommen in der „Apokalypse des Westens“
In seinem Roman „Big Sky Country“beschreibt USAutor Callan Wink nicht nur eine Geschichte über das Erwachsenwerden, sondern auch wie Landschaften die Seele prägen.
Wer ist nun eigentlich, fragt man sich am Ende der rund 380 Seiten, dieser August, dessen Jugend wir in Callan Winks Romandebüt „Big Sky Country“über einen Zeitraum von knapp zehn Jahren mitverfolgen? Ein Jugendlicher wie viele andere. Aufgewachsen in den USA, sucht er halbherzig nach der eigenen Identität. Eine von Augusts wesentlichsten Erkenntnissen, die die eingetrübte Lebensauffassung dieses verschlossenen Charakters auf den Punkt bringt, lautet: „Erwachsen sein hieß, niemanden ertragen zu müssen, dessen Gegenwart er sich nicht ausgesucht hatte. Er sah es kommen und war bereit.“
Als er zwölf ist – das Jahr, in dem dieser dichte, sprachgewaltige, klischeefreie Roman einsetzt – stirbt Augusts Hund Skyler. Mit dieser ersten Todeserfahrung, heißt es, „rauscht das gesamte Weltverständnis auf einen ein, als wäre irgendwo eine Vakuumdichtung gebrochen“. Mit der Endlichkeit des Lebens bekommt Augie ein Verständnis dafür, was Zeit bedeutet: „Es gab den Teil, als Skyler gelebt hatte, als sein Vater, seine Mutter und er alle im neuen Haus gelebt hatten, und jetzt gab es diesen Teil, in dem alles neblig und unklar war.“
Die Schauplätze in „Big Sky Country“kontrastieren immer wieder den Mittleren Westen, wo Augie auf einer gottverlassenen Farm im tiefsten Michigan aufwächst mit dem „Big Sky Country“, sprich dem Bundesstaat Montana, wohin es ihn dann verschlägt. Wer je dort war, weiß: In Montana scheint der Himmel tatsächlich höher zu hängen. Nur: die Trauben des Lebens hängen deshalb nicht tiefer. Mit zwölf stirbt nicht nur Augies Hund, sondern auch seine Familie: Die Eltern trennen sich. Dass Augusts Vater ein Verhältnis mit der Melkerin Lisa (19) anfängt, gibt ihrer abgelebten Beziehung den Rest. Augies Mutter ist „ein rauchverhülltes Phantom“, das pausenlos Zigarillos raucht, kaum isst, aber immer ein offenes Ohr für ihren Sohn hat und ihn gerne auch mal ins Vertrauen zieht. So werden sie sich gegenseitig nie ganz verlieren.
Nach der Trennung zieht Bonnie mit ihrem Sohn in das nebenstehende ältere Haus, in dem die Familie früher wohnte. Was sie ihrem Sohn rät, mag manchmal kryptisch klingen, hallt aber nach – wie so vieles in Winks Roman. So, wenn Bonnie meint: „Manchmal sind Freunde wie Hecken. Ihre Nähe tröstet und schützt, aber gleichzeitig versperren sie einem die Sicht auf die Welt da draußen.“Bei Augie und seinen Kumpels spielen erst mal die Hormone verrückt, ihre Balgereien enden manchmal in einem „epischen Kampf“. Augie geht Prügeleien aus dem Weg, er hätte auch keine Chance. Als sein Kumpel Bob gedemütigt wird, macht er sich lieber aus dem Staub: „Er hatte Bob aufs Schlimmste hängen lassen, das spürte er tief im Inneren.“
Als Bonnie ihren Augie nötigt, mit ihr nach Grand Rapids umzuziehen – „eine verdammte Städteregion mit über einer Million Leute, Menschen über Menschen gestapelt, dass man den Massen kaum entkam“– lässt er ein schmachvolles Kapitel seiner Jugend zurück. Weil Augies Vater dort seine Rinderfarm weiterführt, kehrt Augie in den Ferien in diese stillstehende Welt zurück und trifft die alten Kumpels, was eines Abends im Suff in einer Gruppenvergewaltigung eskaliert. Das Abgründige nistet – um das zu illustrieren, muss der Roman nie dick auftragen – unterm Vordergründigen.
Augies Mom belegt Fernkurse und findet einen Job in einer Bibliothek in Bozeman, Montana. Mit diesem zweiten Umzug findet der Roman neben seinem Adoleszenzthema ein weiteres Grundmotiv, das er ausspielen wird: Er umkreist, wie Landschaften unsere Seele prägen. „August wurde klar, dass eine Landschaft die eigenen Hoffnungen und Erwartungen an das Leben formen konnte“, heißt es einmal. Bei Wink ist das nicht bloße Behauptung, er dekliniert es vielmehr überzeugend durch. Der zementgraue Himmel Michigans („farblos und flach“) wird in Montana eingetauscht gegen eine Weite, die Augie das Gefühl gibt, „als gehörte ihm hier alles, als wäre er der einzige Bewohner eines Universums, in dem die Autos nicht mehr die Vorfahrt hatten“.
Was nicht bedeutet, dass dies Augie etwa auch beflügelte. In seiner Einsilbigkeit und Verklemmtheit bleibt er sich treu, macht dennoch erste sexuelle Erfahrungen und findet in Tim einen Freund, der ihn aus der Reserve zu locken weiß. Es sind nicht zuletzt die extrem gut gebauten Dialoge, die dem Buch Glaubwürdigkeit verleihen. Die Telefongespräche etwa, die Augie mit seinem Vater führt, repräsentieren in ihrer berührenden Mischung aus Zuneigung und Unbeholfenheit die Mühen von Vater-Sohn-Trennungen.
Auch die Grenzenlosigkeit von Landschaften vermag die Horizonte im Inneren nicht unbedingt zu weiten. Nicht von ungefähr heißt Tim Augie an seiner neuen Heimstätte in Montana in einer „Apokalypse des Westens“willkommen. Einer Hinterwelt, wo ein Rodeo-Rennen das Äußerste an sozialer Abwechslung ist. Und eine der raren Gelegenheiten, aufgetakelte Mädchen anzumachen, für Tim sind sie der Höhepunkt des Jahres: „Die Shorts sehen ja wie aufgesprüht aus. Wie kommen die da überhaupt rein?“Ansonsten gehen die Tage in sturer Einfältigkeit dahin. „Das Leben ist scheiße und dann stirbst du“, fasst Tim es zusammen. Der Roman spielt Anfang der 2000er, vor und nach dem US-Kollektivtrauma Nine Eleven. Ramsay, einer von Augies Ex-Kumpels, der seine Zukunft beim Militär sah, stirbt in Afghanistan. Für die alten Freunde, die sich nach ihrer Halbstarkenphase neu sortieren, ist sein Tod der „erste Geschmack der Sterblichkeit“. Sie haben nicht früh auch ihren geliebten Hund verloren.
Callan Winks, von Hannes Meyer exzellent übersetzter Roman lotet am Beispiel des Einzelgängers August, wenn man so will, ein hundsgewöhnliches Leben aus. Er tut es auf bedrückende, literarisch versierte Weise. Es muss nicht viel passieren in diesem amerikanischen Roadund Farm-Movie, damit man „dran bleibt“. Anstatt zu studieren wird Augie auf einem Hof anheuern und Genugtuung finden in den immergleichen Verrichtungen dort. „Unter dem gewaltigen, sich ewig wandelnden blauen Himmel“zu arbeiten, zu angeln und auszuruhen – viel mehr braucht Winks bodenständiger Anti-Held nicht. Ein kurzer Dialog zwischen Mutter und Sohn fängt den sublimen Geist des Romans ein: „Du hast nicht entschieden, wann und wo und unter welchen Umständen du auf die Welt gekommen bist, oder?“„Nein.“„Warum gehst du dann davon aus, dass es solche Entscheidungsfreiheit auf einmal gibt, wenn du da bist?“
Auch die Grenzenlosigkeit von Landschaften vermag
die Horizonte im Inneren nicht unbedingt
zu weiten.
Callan Wink: Big Sky Country. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Suhrkamp. 378 Seiten, 23 Euro