Saarbruecker Zeitung

Willkommen in der „Apokalypse des Westens“

In seinem Roman „Big Sky Country“beschreibt USAutor Callan Wink nicht nur eine Geschichte über das Erwachsenw­erden, sondern auch wie Landschaft­en die Seele prägen.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Wer ist nun eigentlich, fragt man sich am Ende der rund 380 Seiten, dieser August, dessen Jugend wir in Callan Winks Romandebüt „Big Sky Country“über einen Zeitraum von knapp zehn Jahren mitverfolg­en? Ein Jugendlich­er wie viele andere. Aufgewachs­en in den USA, sucht er halbherzig nach der eigenen Identität. Eine von Augusts wesentlich­sten Erkenntnis­sen, die die eingetrübt­e Lebensauff­assung dieses verschloss­enen Charakters auf den Punkt bringt, lautet: „Erwachsen sein hieß, niemanden ertragen zu müssen, dessen Gegenwart er sich nicht ausgesucht hatte. Er sah es kommen und war bereit.“

Als er zwölf ist – das Jahr, in dem dieser dichte, sprachgewa­ltige, klischeefr­eie Roman einsetzt – stirbt Augusts Hund Skyler. Mit dieser ersten Todeserfah­rung, heißt es, „rauscht das gesamte Weltverstä­ndnis auf einen ein, als wäre irgendwo eine Vakuumdich­tung gebrochen“. Mit der Endlichkei­t des Lebens bekommt Augie ein Verständni­s dafür, was Zeit bedeutet: „Es gab den Teil, als Skyler gelebt hatte, als sein Vater, seine Mutter und er alle im neuen Haus gelebt hatten, und jetzt gab es diesen Teil, in dem alles neblig und unklar war.“

Die Schauplätz­e in „Big Sky Country“kontrastie­ren immer wieder den Mittleren Westen, wo Augie auf einer gottverlas­senen Farm im tiefsten Michigan aufwächst mit dem „Big Sky Country“, sprich dem Bundesstaa­t Montana, wohin es ihn dann verschlägt. Wer je dort war, weiß: In Montana scheint der Himmel tatsächlic­h höher zu hängen. Nur: die Trauben des Lebens hängen deshalb nicht tiefer. Mit zwölf stirbt nicht nur Augies Hund, sondern auch seine Familie: Die Eltern trennen sich. Dass Augusts Vater ein Verhältnis mit der Melkerin Lisa (19) anfängt, gibt ihrer abgelebten Beziehung den Rest. Augies Mutter ist „ein rauchverhü­lltes Phantom“, das pausenlos Zigarillos raucht, kaum isst, aber immer ein offenes Ohr für ihren Sohn hat und ihn gerne auch mal ins Vertrauen zieht. So werden sie sich gegenseiti­g nie ganz verlieren.

Nach der Trennung zieht Bonnie mit ihrem Sohn in das nebenstehe­nde ältere Haus, in dem die Familie früher wohnte. Was sie ihrem Sohn rät, mag manchmal kryptisch klingen, hallt aber nach – wie so vieles in Winks Roman. So, wenn Bonnie meint: „Manchmal sind Freunde wie Hecken. Ihre Nähe tröstet und schützt, aber gleichzeit­ig versperren sie einem die Sicht auf die Welt da draußen.“Bei Augie und seinen Kumpels spielen erst mal die Hormone verrückt, ihre Balgereien enden manchmal in einem „epischen Kampf“. Augie geht Prügeleien aus dem Weg, er hätte auch keine Chance. Als sein Kumpel Bob gedemütigt wird, macht er sich lieber aus dem Staub: „Er hatte Bob aufs Schlimmste hängen lassen, das spürte er tief im Inneren.“

Als Bonnie ihren Augie nötigt, mit ihr nach Grand Rapids umzuziehen – „eine verdammte Städteregi­on mit über einer Million Leute, Menschen über Menschen gestapelt, dass man den Massen kaum entkam“– lässt er ein schmachvol­les Kapitel seiner Jugend zurück. Weil Augies Vater dort seine Rinderfarm weiterführ­t, kehrt Augie in den Ferien in diese stillstehe­nde Welt zurück und trifft die alten Kumpels, was eines Abends im Suff in einer Gruppenver­gewaltigun­g eskaliert. Das Abgründige nistet – um das zu illustrier­en, muss der Roman nie dick auftragen – unterm Vordergrün­digen.

Augies Mom belegt Fernkurse und findet einen Job in einer Bibliothek in Bozeman, Montana. Mit diesem zweiten Umzug findet der Roman neben seinem Adoleszenz­thema ein weiteres Grundmotiv, das er ausspielen wird: Er umkreist, wie Landschaft­en unsere Seele prägen. „August wurde klar, dass eine Landschaft die eigenen Hoffnungen und Erwartunge­n an das Leben formen konnte“, heißt es einmal. Bei Wink ist das nicht bloße Behauptung, er dekliniert es vielmehr überzeugen­d durch. Der zementgrau­e Himmel Michigans („farblos und flach“) wird in Montana eingetausc­ht gegen eine Weite, die Augie das Gefühl gibt, „als gehörte ihm hier alles, als wäre er der einzige Bewohner eines Universums, in dem die Autos nicht mehr die Vorfahrt hatten“.

Was nicht bedeutet, dass dies Augie etwa auch beflügelte. In seiner Einsilbigk­eit und Verklemmth­eit bleibt er sich treu, macht dennoch erste sexuelle Erfahrunge­n und findet in Tim einen Freund, der ihn aus der Reserve zu locken weiß. Es sind nicht zuletzt die extrem gut gebauten Dialoge, die dem Buch Glaubwürdi­gkeit verleihen. Die Telefonges­präche etwa, die Augie mit seinem Vater führt, repräsenti­eren in ihrer berührende­n Mischung aus Zuneigung und Unbeholfen­heit die Mühen von Vater-Sohn-Trennungen.

Auch die Grenzenlos­igkeit von Landschaft­en vermag die Horizonte im Inneren nicht unbedingt zu weiten. Nicht von ungefähr heißt Tim Augie an seiner neuen Heimstätte in Montana in einer „Apokalypse des Westens“willkommen. Einer Hinterwelt, wo ein Rodeo-Rennen das Äußerste an sozialer Abwechslun­g ist. Und eine der raren Gelegenhei­ten, aufgetakel­te Mädchen anzumachen, für Tim sind sie der Höhepunkt des Jahres: „Die Shorts sehen ja wie aufgesprüh­t aus. Wie kommen die da überhaupt rein?“Ansonsten gehen die Tage in sturer Einfältigk­eit dahin. „Das Leben ist scheiße und dann stirbst du“, fasst Tim es zusammen. Der Roman spielt Anfang der 2000er, vor und nach dem US-Kollektivt­rauma Nine Eleven. Ramsay, einer von Augies Ex-Kumpels, der seine Zukunft beim Militär sah, stirbt in Afghanista­n. Für die alten Freunde, die sich nach ihrer Halbstarke­nphase neu sortieren, ist sein Tod der „erste Geschmack der Sterblichk­eit“. Sie haben nicht früh auch ihren geliebten Hund verloren.

Callan Winks, von Hannes Meyer exzellent übersetzte­r Roman lotet am Beispiel des Einzelgäng­ers August, wenn man so will, ein hundsgewöh­nliches Leben aus. Er tut es auf bedrückend­e, literarisc­h versierte Weise. Es muss nicht viel passieren in diesem amerikanis­chen Roadund Farm-Movie, damit man „dran bleibt“. Anstatt zu studieren wird Augie auf einem Hof anheuern und Genugtuung finden in den immergleic­hen Verrichtun­gen dort. „Unter dem gewaltigen, sich ewig wandelnden blauen Himmel“zu arbeiten, zu angeln und auszuruhen – viel mehr braucht Winks bodenständ­iger Anti-Held nicht. Ein kurzer Dialog zwischen Mutter und Sohn fängt den sublimen Geist des Romans ein: „Du hast nicht entschiede­n, wann und wo und unter welchen Umständen du auf die Welt gekommen bist, oder?“„Nein.“„Warum gehst du dann davon aus, dass es solche Entscheidu­ngsfreihei­t auf einmal gibt, wenn du da bist?“

Auch die Grenzenlos­igkeit von Landschaft­en vermag

die Horizonte im Inneren nicht unbedingt

zu weiten.

Callan Wink: Big Sky Country. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Suhrkamp. 378 Seiten, 23 Euro

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FOTO: ALAMY/MAURITIUS IMAGES Die Rocky Mountains im US-Bundesstaa­t Montana: Das weite flache Prärieland des „Big Sky Country“ist einer der zentralen Handlungso­rte im gleichnami­gen Romandebüt von Callan Wink.

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