Klinikum setzt bei Frühchen aufs Kuscheln
In der Corona-Pandemie ist Abstand das oberste Gebot. Doch auf der Kinderintensivstation des Klinikums Saarbrücken setzt man auch jetzt auf die Kraft der Berührung.
Auf der Kinder-Intensivstation des Klinikums auf dem Saarbrücker Winterberg setzen Ärzte bei der Behandlung von Frühchen auf Körperkontakt zwischen den Babys und den Eltern. Die so genannte Känguru-Methode, ein enges Kuscheln, spielt eine große Rolle. 1
Miroslaw Ivanov schaut in den Spiegel, um seinen Sohn zu sehen. Daniel liegt schlafend auf der nackten Brust seines Vaters. Ein winziges Kind, fünf Wochen auf der Welt, zweieinhalb Monate zu früh geboren. Bei der Entbindung wog das Frühchen nicht mehr als 745 Gramm. Vater Miroslaw dreht den runden Spiegel in seiner linken Hand so, dass er die zarten Gesichtszüge seines Babys betrachten kann. Mutter Keranka lächelt zu den beiden herüber. Das erkennt man trotz der Maske, die sie trägt. Auf ihrem Oberkörper schlummert Elena, die Zwillingsschwester von Daniel, wie er bedeckt mit einem wärmenden Handtuch aus blassblauem Frottee.
Keranka und Miroslaw sitzen zurückgelehnt auf gelben Ledersesseln, in einem geräumigen Zimmer der Kinder-Intensivstation des Klinikums auf dem Saarbrücker Winterberg. Umgeben von Schläuchen und Apparaten, zwischen den Inkubatoren, den Brutkästen, in denen ihre Zwillinge pausenlos überwacht werden – wenn ihre Eltern nicht da sein können. Täglich kommt das Paar ins Krankenhaus. „Wir haben hier rund um die Uhr Besuchszeit für die Eltern“, sagt Eva Vogelgesang, die pflegerische Leiterin. Auf der Station legt man Müttern und Vätern ihre Kinder auf die Brust, immer für zwei bis drei
Stunden. Familienzeit, in der es auf jede Berührung ankommt, während die Corona-Pandemie die Menschen überall zum Abstandhalten zwingt.
Es geht ums Kuscheln und Streicheln, engen Hautkontakt, um Nähe und Bindung aufzubauen. Känguruhen nennen das die Fachleute, es handelt sich um eine von Medizinern weltweit anerkannte Methode, die Frühgeborenen das Leben retten kann. Deshalb schlug die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kürzlich Alarm. Der wichtige Körperkontakt
werde wegen Corona in vielen Ländern eingeschränkt. Dabei könne die Kuscheltherapie die Sterblichkeit der Babys um bis zu 40 Prozent senken. Auch wenn eine Mutter mit SarsCoV-2 infiziert ist, rät die WHO daher dringend zum Känguruhen. Der Nutzen übertreffe die Risiken bei weitem.
Die in der Pandemie verordnete Distanz bestimmt die Beziehungen in Deutschland, wo man schon vor Corona „körperlich eher distanziert“war, wie Rebecca Böhme in ihrem Buch „Human touch“schreibt. Die Neurowissenschaftlerin hat sich auf die Berührungsforschung spezialisiert. Das Kuscheln mit seinen Kindern müsse man immer noch gegen den Vorwurf des „Verwöhnens“verteidigen. Dabei sei der Berührsinn nicht nur unser ältester, sondern auch unser wichtigster Sinn, betont Böhme, die während der Pandemie eine gefragte Expertin ist. Sie erklärt, wie lange Neugeborene von den ersten Streicheleinheiten ihres Lebens profitieren. Bei Frühchen zeige sich der Vorteil eines regelmäßigen Hautkontaktes noch zehn Jahre später. „Diese Kinder haben bessere kognitive Fähigkeiten, sind weniger schnell gestresst und schlafen besser als die Vergleichsgruppe“, referiert Böhme.
Auch auf dem Winterberg ist man von der Kraft der Berührung überzeugt. Der Herzschlag der Kinder werde stabiler, sie nähmen besser zu, ihre Atmung und Sauerstoffversorgung sei stabiler und meist besser, es komme zu weniger Infektionen, hat Vogelgesang als Pflegeleiterin beobachtet. „Sie können schneller nach Hause“, sagt die gelernte Kinderkrankenschwester über die Neugeborenen auf ihrer Intensivstation. „Wenn die Eltern mit ihren Kindern gut zusammenfinden, bekommen sie kein unbekanntes Wesen mit nach Hause, dann sind sie eine Einheit.“So soll es auch bei den Babys der Familie Ivanov sein.
„Die beiden haben sich super gemacht“, sagt Vogelgesang über die kleinen Zwillinge. „Ich habe nicht damit gerechnet“, sagt Keranka Ivanov über das plötzliche Ende ihrer ersten Schwangerschaft nach nur 26, nicht 40 Wochen. Ihre Babys kamen per Kaiserschnitt zur Welt, in einer Notsituation, alles ging unerwartet schnell. Ein Neugeborenes wiegt in Deutschland durchschnittlich 3480 Gramm. Elena und Daniel brachten gemeinsam weniger als die Hälfte auf die Waage. „Sie waren viel kleiner als jetzt“, erzählt die Mutter. Das hat den Erstkontakt erschwert, die 30-Jährige wollte nichts falsch machen. Sie sagt: „Die ersten Tage waren schwierig, da hatte ich immer Angst, dass ich etwas falsch mache, wenn ich sie anfasse.“Das hat sich gelegt, sie merke, wie die Kinder auf sie reagieren.
„Mein Mann traut sich noch nicht so richtig“, berichtet sie. Dabei ist Keranka überzeugt: „Der Junge ist viel ruhiger bei seinem Papa, das ist gemein.“Die Mutter lacht.
Barbara Cattarius weiß, wie Eltern und Kinder durch Hautkontakt eine Bindung aufbauen. Als Professorin an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) bildet sie Hebammen akademisch aus, seit dem vergangenen Jahr. Davor hat sie den Beruf mehr als zwanzig Jahre selbst ausgeübt. Sie kann vortragen, was die Forschung über die sogenannte Bondingphase sagt, den Zauber erster Nähe. Und sie kann als Hebamme aus dem Kreißsaal berichten. Denn nicht nur auf der Intensivstation setzen Kliniken wie der Saarbrücker Winterberg auf engen Körperkontakt. Auch bei der Geburt soll genügend Zeit für Zärtlichkeit sein. Cattarius spricht von einer „natürlichen, intuitiven Verbindung“, die Eltern mit ihrem Neugeborenen in den ersten Stunden eingehen. Getragen durch Oxytocin, einen körpereigenen Botenstoff, der als „Bindungshormon“bekannt ist. „Auf der psychologischen Ebene ist es so, dass dieses Bindungshormon wie ein emotionaler Sekundenkleber wirkt“, erklärt die Professorin. Der Stresspegel sinkt, der Puls normalisiert sich, auch einer Depression im Wochenbett können die Momente der Nähe laut Cattarius vorbeugen. „Man weiß um die Vorteile der Bondingphase, aber manchmal stehen ihr auch Klinikroutinen im Weg“, sagt die Expterin.
Die Tochter von Niroshini Kugathasan und ihrem Mann Mathi kommt hinter einem Vorhang zur Welt. So sieht es an diesem Morgen jedenfalls aus. Ein aufgespanntes Tuch verdeckt auch für die werdende Mutter, wie der Kaiserschnitt verläuft. Ihr Körper ist von der Brust abwärts betäubt. Die Geburt ihres Kindes zeichnet sich wie ein Schattenspiel auf dem Tuch vor ihren Augen
ab. „Jetzt kommt der Schnitt“, hört Niroshini von der anderen Seite, Mathi streicht ihr über den linken Oberarm. Registriert sie die Schritte im OP, die Menschen um sie herum, das andauernde Fiepen der Maschinen, die Schnitte auf der anderen Seite des Tuchs, wie Metall auf Metall reibt? Um 8.36 Uhr erfüllt ein Quäken den Raum, da ist sie, ihre Tochter.
Nun ist Eva Vogelgesang gefragt. Sie empfinde es noch immer als Privileg, bei einer Geburt dabei zu sein, hatte die 61-Jährige gesagt, bevor sie den Raum betrat. Bei sich trägt sie ein Mützchen, eingewickelt in eine Windel, die sie auf 57 Grad angewärmt hat. Für das Neugeborene. „Hat sie schon einen Namen, ihre Tochter?“, fragt Vogelgesang. Mit dem Smartphone des Vaters macht sie ein Familienfoto. Dann will sie von der Mutter wissen: „Alles gut bei Ihnen?“Niroshini nickt. Vogelgesang hat ihr das Baby quer auf den Busen gelegt. Gehalten wird es durch ein elastisches Band, das die Frau eng um ihren Oberkörper trägt. Zeit zum Kuscheln. Mit dem Daumen fährt Niroshini ihrem Baby über die Wange, sie befühlt die kleinen Finger der linken Hand ihrer Tochter. „Jetzt müssen wir uns gar keinen Stress machen“, sagt Vogelgesang.
Früher haben Mütter ihre Neugeborenen nach einem Kaiserschnitt in den ersten zwei Lebensstunden kaum zu Gesicht bekommen. Heute ist das auf manchen Geburtsstationen noch immer so. „Das sind Relikte, die sich bis heute durchziehen – wider besseren Wissens“, sagt HTW-Professorin Cattarius. Sie erklärt das auch mit dem Druck, der durch den Hebammenmangel auf der Geburtshilfe laste.
Auf dem Winterberg wollte man es anders machen. Einfach war das nicht. „Das hat eine große Vorbereitung gebraucht“, sagt Vogelgesang. Aber: „Wenn eine Sache gut ist, muss es irgendwie gehen.“Der Hautkontakt bewirke viel, das sei wissenschaftlich gut belegt. Dabei kommt es nicht nur auf die Mütter an, auch die Väter bezieht man ein. Das hat sich über die Jahre verändert. Vogelgesang nennt die Männer eine lange „verschenkte Ressource“. Das sieht die Professorin Cattarius ähnlich. Die Effekte, die sich bei den Müttern zeigten, seien auch bei den Vätern zu beobachten, erklärt sie. Aus eigener Erfahrung berichtet sie: „Bei allen Geburten, bei denen ich dabei war, haben die Männer das dankbar angenommen.“
So wie Miroslaw Ivanov, der fünf Wochen nach der zu frühen Geburt seiner Kinder den Spiegel dreht, um einen Blick auf seinen Sohn zu erhaschen – der auf seiner Männerbrust friedlich schläft.