Warum es im Saarland so viele Kaiserschnitt-Geburten gibt
In keinem anderen Bundesland gibt es so viele Kaiserschnitte wie im Saarland. Das wirft Fragen rund ums Thema Geburt auf. Bei der Wahl der Geburtsklinik will ein neuer Internet-Dienst Eltern helfen.
Wenn ein Thema als heikel gilt und schwierig zu fassen ist, tauchen in Diskussionen darüber oft sperrige Begriffe wie „multifaktorielles Geschehen“und „komplexer Ursachenmix“auf. Heißt: Alles ist irgendwie miteinander verwoben, und dieses Irgendwie schwierig zu entwirren. Ein Beispiel dafür ist eine Statistik, in der das Saarland schon lange einen unrühmlichen Spitzenplatz einnimmt. Nirgends sonst werden so viele Kinder per Kaiserschnitt geboren. Die Wahrscheinlichkeit, per Sectio, wie die Mediziner sagen, das Licht der Welt zu erblicken, liegt für ein Baby an der Saar bei 35 Prozent. In Sachsen, dem Gegenpol der Erhebung, beträgt der Wert laut Statistischem Bundesamt 25 Prozent. Warum ist das so?
Dafür gebe es medizinische Gründe, auch wenn die Statistiken nicht alle Faktoren berücksichtigten, sagt Dr. Monika Bücheler, Leiterin der Landesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung Saarland, die bei der Saarländischen Krankenhausgesellschaft angesiedelt ist. Werdende Mütter im Saarland hätten häufiger Übergewicht und rauchten tendenziell öfter und mehr, sagt die Ärztin. Älter als der Bundesschnitt, wie mitunter zu hören ist, seien sie aber nicht. Die Gründe, so Professor Erich Solomayer, Direktor der Klinik für Geburtshilfe am Homburger Uni-Klinikum, seien vielschichtig. Dazu zähle auch eine wachsende Unsicherheit junger Mütter, die weniger Kinder haben und ihr Wunsch einer möglichst risikoarmen Geburt. Das zeige eine Umfrage unter 300 Frauen in Homburg.
Außer medizinischen Argumenten
gibt es auch andere Antworten. Unterschiede zwischen den Bundesländern könnten sich nach Expertenmeinung auch durch die Struktur der Kliniken ergeben, erklärt das saarländische Sozialministerium. Und der Verband der Ersatzkrankenkassen (VDEK) kommt zu diesem Ergebnis: „Unterschiede in den Kaiserschnittraten haben weniger medizinische als organisatorische Gründe. So haben Kliniken mit geringerer Geburtenzahl und weniger Personal oft höhere Kaiserschnittraten, während größere Kliniken mit ausreichend Personal weniger Kaiserschnitte durchführen.“Auch finanzielle Gründe in der schlecht vergüteten Geburtshilfe spielten eine Rolle. Es gebe Anreize für Krankenhäuser, „durch geplante Kaiserschnitt-Geburten die Belastung zu verringern und den Erlös zu steigern“, heißt es im VDEK-Magazin.
Dr. Jochen Frenzel, Vorsitzender des saarländischen Landesverbands der Frauenärzte, vertritt bei diesem Thema eine klare Meinung: „Gute Geburtshilfe hat sehr viel mit Zeit und Personal zu tun.“Bei intensiver Betreuung der Schwangeren, dafür gebe es Beispiele im Saarland, sinke die Zahl der Kaiserschnitte. Umgekehrt sei eine hohe Kaiserschnitt-Quote unbedingt ein Hinweis, dass die Betreuung der werdenden Mütter verbessert werden sollte. Zu einer guten Geburtshilfe, so fordert Frenzel, gehöre außer dem intensiven Gespräch des Arztes mit der werdenden Mutter vor der Geburt auch die intensive Betreuung im Kreißsaal. Eine Hebamme pro Entbindung laute die Formel. Dafür
sei eine Zentralisierung der Geburtskliniken nötig, erklärt der Gynäkologe und Pränatalmediziner.
Den Trend zum Kaiserschnitt beschreibt Frenzel einerseits als Folge der Ökonomisierung der Medizin seit den 1990er Jahren und anderseits als Ergebnis verbesserter OP-Techniken, die das Risiko der operativen Geburt für Mutter und Kind quasi aufs Maß der vaginalen Entbindung reduziert hätten. So sei die Operation aus Sicht der Statistiker zur echten Alternative geworden. Das habe zwar die Effizienz des Klinikbetriebs erhöht, „doch dabei bleibt die Biologie auf der Strecke.“Eine Entbindung lasse sich nicht nach ökonomischem Schema durchoptimieren. In der Mitte des vergangenen Jahrzehnts habe schließlich die Erkenntnis Raum gewonnen, dass eine Kaiserschnitt-Geburt für Mutter und Kind Nachteile haben könne. Zwar führten heute auch medizinische Faktoren dazu, dass Entbindungen öfter per Kaiserschnitt enden – die Mütter seien älter, hätten öfter Übergewicht und Vorerkrankungen als vor 30 Jahren, auch Fruchtbarkeitsbehandlungen und Mehrlingsgeburten spielten eine Rolle – doch mehr als 25 Prozent Kaiserschnitt-Entbindungen müssten nicht sein, schätzt Frenzel. Wie lässt sich das erreichen? Indem die Ressourcen der Geburtshilfe konzentriert werden, schlägt der Vorsitzende des Landesverbands der Frauenärzte vor. „Da wird das Krankenhaus um die Ecke vielleicht nicht das Zukunftsmodell sein.“Heute hat das Saarland acht Geburtskliniken, Frenzel hält eine Verminderung auf vier „dann super-ausgestattete Kliniken“für denkbar.
8000 Saarländer erblicken in jedem Jahr das Licht der Welt. Der innigste Wunsch aller Eltern ist ein gesundes Kind. Wie finden sie die für sie optimale Geburtsklinik? Das ist in Corona-Zeiten besonders schwierig geworden, weil Kreißsaal-Führungen ausfallen. Der Wunsch nach medizinischer Sicherheit spiegele sich im Geburtsort Krankenhaus wieder, sagt Bianca Derbolowsky, Vize-Vorsitzende des saarländischen Hebammenverbands. Obwohl die meisten Frauen schon früh eine Vorstellung entwickelten, wo sie entbinden möchten, besäßen nur wenige Eltern Informationen über medizinische und organisatorische Details der Einrichtung von Geburtskliniken.
Zu diesem Thema hat das Science Media Center (SMC), eine von der Klaus-Tschirra-Stiftung und der Wissenschaftspressekonferenz in Köln getragene, gemeinnützige Recherche-Redaktion, eine bundesweite Umfrage unter Geburtskliniken gestartet. Bundesweit hat gut die Hälfte der Krankenhäuser teilgenommen, im Saarland waren es sieben der acht Geburtskliniken. Die Auswertungen des SMC sind in eine Internet-Anwendung eingeflossen, das sogenannte Kreißsaal-Navi (wir haben berichtet). Es soll Eltern bei der Suche nach einer Geburtsklinik helfen. Worauf kommt es dabei an?
Informationen zu ihren medizinischen Leistungen müssen Krankenhäuser zwar schon seit Jahren liefern, doch in diesen Qualitätsberichten finden sich nur Experten zurecht. Im Grunde könnten sich Eltern bei der Wahl ihrer Geburtsklinik jedoch von ganz einfachen Fragen leiten lassen, erklärt Professor Frank Louwen, Vize-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). Die entscheidende Frage laute: „Wer ist bei mir, wenn ich mein Kind bekomme? Sind ausreichend Hebammen vorhanden, damit ich gut unterstützt werde? Sind rund um die Uhr qualifizierte Ärztinnen und Ärzte vor Ort?“Die DGGG fordere, dass sich in Kreißsälen jede Hebamme nur um eine einzige Geburt kümmern dürfe. Das sei bisher keineswegs selbstverständlich.
Eltern erkundigten sich, statt nach dem Personal und der ebenso wichtigen technischen Ausstattung einer Klinik zu fragen, häufiger nach anderen Dingen, zum Beispiel Familienzimmern, sagt Dr. Maike Manz, die den Bereich Klassische Geburtshilfe der DGGG leitet. „Das liegt daran, dass sie verständlicherweise davon ausgehen, dass in einem Krankenhaus immer das nötige Personal vor Ort ist.“Das sei aber nicht automatisch in allen Kliniktypen der Fall. „Eltern sollten unbedingt danach fragen“, erklärt die Hebamme und Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe. Außerdem sei es wichtig zu wissen, ob Geburtshelfer rund um die Uhr anwesend seien, sagt Maike Manz. „Wenn Hebammen in Rufbereitschaft sind, heißt das ganz einfach: Sie sind nicht da und müssen gerufen werden.“Und eine Kooperation mit einer Kinderklinik bedeute nicht automatisch, dass ein Kinderarzt immer im Haus sei.
Die Frage, mit der sich werdende Eltern auseinandersetzen müssten, laute deshalb nicht, wie weit ist der Weg bis zur Geburtsklinik, sondern „erreiche ich eine Klinik mit ausreichender Personalstruktur“, erklärt Frank Louwen.
Die Vertreter der DGGG empfehlen Eltern, nach dem Level der Klinik zu fragen. Hier gibt es ein vierstufiges System, dessen Bezeichnungen für Laien erklärungsbedürftig seien, sagt Maike Manz. Kliniken der maximalen Versorgung (Level 1), die für jedes Problem gerüstet sein müssen, werden Perinatalzentren genannt. Im Saarland sind das die Uniklinik und das Klinikum Saarbrücken. Hier und in den Level-2-Zentren, die es im Saarland nicht gibt, ist die Anwesenheit von Hebammen und Fachärzten für Gynäkologie, Geburtshilfe, Anästhesie und Kinderheilkunde rund um die Uhr vorgeschrieben. Level-3-Kliniken, die auch als „Perinataler Schwerpunkt“bezeichnet werden, sind Geburtskliniken mit angeschlossener Kinderklinik. Die Regeln zur ständigen Anwesenheit des Fachpersonals sind nicht so streng. Für Geburtskliniken (Level 4) gebe es weniger gesetzliche Regelungen.
Der Kreißsaal-Navigator des Science Media Centers basiert auf der Auswertung von Daten der Qualitätsberichte der Kliniken und Ergänzungen aus der bundesweiten Umfrage. Eingeflossen sind auch Angaben zur Zahl der Geburten und der Geburtsverfahren, der Präsenz von Ärzten und Hebammen und zur sogenannten Laktationsberatung. Die Beteiligung der Kliniken im Saarland, bis aufs Krankenhaus Merzig nahmen an der Umfrage alle Krankenhäuser teil, war mit Bremen und Brandenburg die höchste in Deutschland. Die Datenlage, so das Science Media Center, gelte damit als ausgesprochen gut.
Am Ergebnis der Statistik ändert die Qualität der Daten natürlich nichts. Auch wenn die Kaiserschnitt-Quote gesunken ist, dürfte das Saarland zunächst auf dem ungeliebten Spitzenplatz der Statistik sitzenbleiben. Was lässt sich tun, um längerfristig herunterzukommen? Das Sozialministerium verweist auf den Arbeitskreis zur Förderung der physiologischen Geburt, der Maßnahmen erarbeiten solle. Monika Bücheler vom Qualitätsbüro plädiert für Aufklärungskampagnen zur physiologischen Geburt und gesunde Lebensführung in Schulen und Familien. Die Medizin, so Dr. Gunter Hauptmann, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Saar, habe in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Der früher geläufige Spruch „Einmal Kaiserschnitt, immer Kaiserschnitt“, sei längst nicht mehr gültig. Maike Manz und Frank Louwen votieren für eine bessere Organisation der Geburtskliniken. Denn grundsätzlich, so Maike Manz, „ist genug Personal vorhanden. Es ist nur auf zu viele Häuser verteilt.“
Und schließlich gebe es im Saarland auch Beispiele für positive Veränderungen, wirft der Vorsitzende des Landesverbands der Frauenärzte, Frank Frenzel, ein. Dieser Hinweis zielt auf die Neuorganisation der Marienhaus-Klinik und des DRK-Krankenhauses Saarlouis zum Jahreswechsel 2018/19. Deren Geburtskliniken wurden unter einer Leitung zusammengefasst. Nach Angaben des Ärztlichen Direktors Dr. Johannes Bettscheider ist die Kaiserschnittquote der Marienhaus-Klinik von 2018 bis heute von 41 auf 27 Prozent gesunken.
„Das Krankenhaus um die Ecke wird vielleicht nicht das Zukunftsmodell sein.“
Dr. Jochen Frenzel
Landesverband der Frauenärzte