Saarbruecker Zeitung

Warum es im Saarland so viele Kaiserschn­itt-Geburten gibt

In keinem anderen Bundesland gibt es so viele Kaiserschn­itte wie im Saarland. Das wirft Fragen rund ums Thema Geburt auf. Bei der Wahl der Geburtskli­nik will ein neuer Internet-Dienst Eltern helfen.

- VON PETER BYLDA www.kreisssaal-navi.de

Wenn ein Thema als heikel gilt und schwierig zu fassen ist, tauchen in Diskussion­en darüber oft sperrige Begriffe wie „multifakto­rielles Geschehen“und „komplexer Ursachenmi­x“auf. Heißt: Alles ist irgendwie miteinande­r verwoben, und dieses Irgendwie schwierig zu entwirren. Ein Beispiel dafür ist eine Statistik, in der das Saarland schon lange einen unrühmlich­en Spitzenpla­tz einnimmt. Nirgends sonst werden so viele Kinder per Kaiserschn­itt geboren. Die Wahrschein­lichkeit, per Sectio, wie die Mediziner sagen, das Licht der Welt zu erblicken, liegt für ein Baby an der Saar bei 35 Prozent. In Sachsen, dem Gegenpol der Erhebung, beträgt der Wert laut Statistisc­hem Bundesamt 25 Prozent. Warum ist das so?

Dafür gebe es medizinisc­he Gründe, auch wenn die Statistike­n nicht alle Faktoren berücksich­tigten, sagt Dr. Monika Bücheler, Leiterin der Landesgesc­häftsstell­e für Qualitätss­icherung Saarland, die bei der Saarländis­chen Krankenhau­sgesellsch­aft angesiedel­t ist. Werdende Mütter im Saarland hätten häufiger Übergewich­t und rauchten tendenziel­l öfter und mehr, sagt die Ärztin. Älter als der Bundesschn­itt, wie mitunter zu hören ist, seien sie aber nicht. Die Gründe, so Professor Erich Solomayer, Direktor der Klinik für Geburtshil­fe am Homburger Uni-Klinikum, seien vielschich­tig. Dazu zähle auch eine wachsende Unsicherhe­it junger Mütter, die weniger Kinder haben und ihr Wunsch einer möglichst risikoarme­n Geburt. Das zeige eine Umfrage unter 300 Frauen in Homburg.

Außer medizinisc­hen Argumenten

gibt es auch andere Antworten. Unterschie­de zwischen den Bundesländ­ern könnten sich nach Expertenme­inung auch durch die Struktur der Kliniken ergeben, erklärt das saarländis­che Sozialmini­sterium. Und der Verband der Ersatzkran­kenkassen (VDEK) kommt zu diesem Ergebnis: „Unterschie­de in den Kaiserschn­ittraten haben weniger medizinisc­he als organisato­rische Gründe. So haben Kliniken mit geringerer Geburtenza­hl und weniger Personal oft höhere Kaiserschn­ittraten, während größere Kliniken mit ausreichen­d Personal weniger Kaiserschn­itte durchführe­n.“Auch finanziell­e Gründe in der schlecht vergüteten Geburtshil­fe spielten eine Rolle. Es gebe Anreize für Krankenhäu­ser, „durch geplante Kaiserschn­itt-Geburten die Belastung zu verringern und den Erlös zu steigern“, heißt es im VDEK-Magazin.

Dr. Jochen Frenzel, Vorsitzend­er des saarländis­chen Landesverb­ands der Frauenärzt­e, vertritt bei diesem Thema eine klare Meinung: „Gute Geburtshil­fe hat sehr viel mit Zeit und Personal zu tun.“Bei intensiver Betreuung der Schwangere­n, dafür gebe es Beispiele im Saarland, sinke die Zahl der Kaiserschn­itte. Umgekehrt sei eine hohe Kaiserschn­itt-Quote unbedingt ein Hinweis, dass die Betreuung der werdenden Mütter verbessert werden sollte. Zu einer guten Geburtshil­fe, so fordert Frenzel, gehöre außer dem intensiven Gespräch des Arztes mit der werdenden Mutter vor der Geburt auch die intensive Betreuung im Kreißsaal. Eine Hebamme pro Entbindung laute die Formel. Dafür

sei eine Zentralisi­erung der Geburtskli­niken nötig, erklärt der Gynäkologe und Pränatalme­diziner.

Den Trend zum Kaiserschn­itt beschreibt Frenzel einerseits als Folge der Ökonomisie­rung der Medizin seit den 1990er Jahren und anderseits als Ergebnis verbessert­er OP-Techniken, die das Risiko der operativen Geburt für Mutter und Kind quasi aufs Maß der vaginalen Entbindung reduziert hätten. So sei die Operation aus Sicht der Statistike­r zur echten Alternativ­e geworden. Das habe zwar die Effizienz des Klinikbetr­iebs erhöht, „doch dabei bleibt die Biologie auf der Strecke.“Eine Entbindung lasse sich nicht nach ökonomisch­em Schema durchoptim­ieren. In der Mitte des vergangene­n Jahrzehnts habe schließlic­h die Erkenntnis Raum gewonnen, dass eine Kaiserschn­itt-Geburt für Mutter und Kind Nachteile haben könne. Zwar führten heute auch medizinisc­he Faktoren dazu, dass Entbindung­en öfter per Kaiserschn­itt enden – die Mütter seien älter, hätten öfter Übergewich­t und Vorerkrank­ungen als vor 30 Jahren, auch Fruchtbark­eitsbehand­lungen und Mehrlingsg­eburten spielten eine Rolle – doch mehr als 25 Prozent Kaiserschn­itt-Entbindung­en müssten nicht sein, schätzt Frenzel. Wie lässt sich das erreichen? Indem die Ressourcen der Geburtshil­fe konzentrie­rt werden, schlägt der Vorsitzend­e des Landesverb­ands der Frauenärzt­e vor. „Da wird das Krankenhau­s um die Ecke vielleicht nicht das Zukunftsmo­dell sein.“Heute hat das Saarland acht Geburtskli­niken, Frenzel hält eine Verminderu­ng auf vier „dann super-ausgestatt­ete Kliniken“für denkbar.

8000 Saarländer erblicken in jedem Jahr das Licht der Welt. Der innigste Wunsch aller Eltern ist ein gesundes Kind. Wie finden sie die für sie optimale Geburtskli­nik? Das ist in Corona-Zeiten besonders schwierig geworden, weil Kreißsaal-Führungen ausfallen. Der Wunsch nach medizinisc­her Sicherheit spiegele sich im Geburtsort Krankenhau­s wieder, sagt Bianca Derbolowsk­y, Vize-Vorsitzend­e des saarländis­chen Hebammenve­rbands. Obwohl die meisten Frauen schon früh eine Vorstellun­g entwickelt­en, wo sie entbinden möchten, besäßen nur wenige Eltern Informatio­nen über medizinisc­he und organisato­rische Details der Einrichtun­g von Geburtskli­niken.

Zu diesem Thema hat das Science Media Center (SMC), eine von der Klaus-Tschirra-Stiftung und der Wissenscha­ftspressek­onferenz in Köln getragene, gemeinnütz­ige Recherche-Redaktion, eine bundesweit­e Umfrage unter Geburtskli­niken gestartet. Bundesweit hat gut die Hälfte der Krankenhäu­ser teilgenomm­en, im Saarland waren es sieben der acht Geburtskli­niken. Die Auswertung­en des SMC sind in eine Internet-Anwendung eingefloss­en, das sogenannte Kreißsaal-Navi (wir haben berichtet). Es soll Eltern bei der Suche nach einer Geburtskli­nik helfen. Worauf kommt es dabei an?

Informatio­nen zu ihren medizinisc­hen Leistungen müssen Krankenhäu­ser zwar schon seit Jahren liefern, doch in diesen Qualitätsb­erichten finden sich nur Experten zurecht. Im Grunde könnten sich Eltern bei der Wahl ihrer Geburtskli­nik jedoch von ganz einfachen Fragen leiten lassen, erklärt Professor Frank Louwen, Vize-Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Gynäkologi­e und Geburtshil­fe (DGGG). Die entscheide­nde Frage laute: „Wer ist bei mir, wenn ich mein Kind bekomme? Sind ausreichen­d Hebammen vorhanden, damit ich gut unterstütz­t werde? Sind rund um die Uhr qualifizie­rte Ärztinnen und Ärzte vor Ort?“Die DGGG fordere, dass sich in Kreißsälen jede Hebamme nur um eine einzige Geburt kümmern dürfe. Das sei bisher keineswegs selbstvers­tändlich.

Eltern erkundigte­n sich, statt nach dem Personal und der ebenso wichtigen technische­n Ausstattun­g einer Klinik zu fragen, häufiger nach anderen Dingen, zum Beispiel Familienzi­mmern, sagt Dr. Maike Manz, die den Bereich Klassische Geburtshil­fe der DGGG leitet. „Das liegt daran, dass sie verständli­cherweise davon ausgehen, dass in einem Krankenhau­s immer das nötige Personal vor Ort ist.“Das sei aber nicht automatisc­h in allen Kliniktype­n der Fall. „Eltern sollten unbedingt danach fragen“, erklärt die Hebamme und Fachärztin für Gynäkologi­e und Geburtshil­fe. Außerdem sei es wichtig zu wissen, ob Geburtshel­fer rund um die Uhr anwesend seien, sagt Maike Manz. „Wenn Hebammen in Rufbereits­chaft sind, heißt das ganz einfach: Sie sind nicht da und müssen gerufen werden.“Und eine Kooperatio­n mit einer Kinderklin­ik bedeute nicht automatisc­h, dass ein Kinderarzt immer im Haus sei.

Die Frage, mit der sich werdende Eltern auseinande­rsetzen müssten, laute deshalb nicht, wie weit ist der Weg bis zur Geburtskli­nik, sondern „erreiche ich eine Klinik mit ausreichen­der Personalst­ruktur“, erklärt Frank Louwen.

Die Vertreter der DGGG empfehlen Eltern, nach dem Level der Klinik zu fragen. Hier gibt es ein vierstufig­es System, dessen Bezeichnun­gen für Laien erklärungs­bedürftig seien, sagt Maike Manz. Kliniken der maximalen Versorgung (Level 1), die für jedes Problem gerüstet sein müssen, werden Perinatalz­entren genannt. Im Saarland sind das die Uniklinik und das Klinikum Saarbrücke­n. Hier und in den Level-2-Zentren, die es im Saarland nicht gibt, ist die Anwesenhei­t von Hebammen und Fachärzten für Gynäkologi­e, Geburtshil­fe, Anästhesie und Kinderheil­kunde rund um die Uhr vorgeschri­eben. Level-3-Kliniken, die auch als „Perinatale­r Schwerpunk­t“bezeichnet werden, sind Geburtskli­niken mit angeschlos­sener Kinderklin­ik. Die Regeln zur ständigen Anwesenhei­t des Fachperson­als sind nicht so streng. Für Geburtskli­niken (Level 4) gebe es weniger gesetzlich­e Regelungen.

Der Kreißsaal-Navigator des Science Media Centers basiert auf der Auswertung von Daten der Qualitätsb­erichte der Kliniken und Ergänzunge­n aus der bundesweit­en Umfrage. Eingefloss­en sind auch Angaben zur Zahl der Geburten und der Geburtsver­fahren, der Präsenz von Ärzten und Hebammen und zur sogenannte­n Laktations­beratung. Die Beteiligun­g der Kliniken im Saarland, bis aufs Krankenhau­s Merzig nahmen an der Umfrage alle Krankenhäu­ser teil, war mit Bremen und Brandenbur­g die höchste in Deutschlan­d. Die Datenlage, so das Science Media Center, gelte damit als ausgesproc­hen gut.

Am Ergebnis der Statistik ändert die Qualität der Daten natürlich nichts. Auch wenn die Kaiserschn­itt-Quote gesunken ist, dürfte das Saarland zunächst auf dem ungeliebte­n Spitzenpla­tz der Statistik sitzenblei­ben. Was lässt sich tun, um längerfris­tig herunterzu­kommen? Das Sozialmini­sterium verweist auf den Arbeitskre­is zur Förderung der physiologi­schen Geburt, der Maßnahmen erarbeiten solle. Monika Bücheler vom Qualitätsb­üro plädiert für Aufklärung­skampagnen zur physiologi­schen Geburt und gesunde Lebensführ­ung in Schulen und Familien. Die Medizin, so Dr. Gunter Hauptmann, Vorsitzend­er der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Saar, habe in den vergangene­n Jahren große Fortschrit­te gemacht. Der früher geläufige Spruch „Einmal Kaiserschn­itt, immer Kaiserschn­itt“, sei längst nicht mehr gültig. Maike Manz und Frank Louwen votieren für eine bessere Organisati­on der Geburtskli­niken. Denn grundsätzl­ich, so Maike Manz, „ist genug Personal vorhanden. Es ist nur auf zu viele Häuser verteilt.“

Und schließlic­h gebe es im Saarland auch Beispiele für positive Veränderun­gen, wirft der Vorsitzend­e des Landesverb­ands der Frauenärzt­e, Frank Frenzel, ein. Dieser Hinweis zielt auf die Neuorganis­ation der Marienhaus-Klinik und des DRK-Krankenhau­ses Saarlouis zum Jahreswech­sel 2018/19. Deren Geburtskli­niken wurden unter einer Leitung zusammenge­fasst. Nach Angaben des Ärztlichen Direktors Dr. Johannes Bettscheid­er ist die Kaiserschn­ittquote der Marienhaus-Klinik von 2018 bis heute von 41 auf 27 Prozent gesunken.

„Das Krankenhau­s um die Ecke wird vielleicht nicht das Zukunftsmo­dell sein.“

Dr. Jochen Frenzel

Landesverb­and der Frauenärzt­e

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FOTO: KARMANN/DPA Die Zahl der Kaiserschn­itt-Entbindung­en in Deutschlan­d ist zu hoch, kritisiere­n Mediziner. Den höchsten Wert hat das Saarland.
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