Saarbruecker Zeitung

Warum in Amerika die Impfskepsi­s wächst

Misstrauen und Vorbehalte bei Afroamerik­anern, aber auch bei Evangelika­len und Wählern der Republikan­er bremsen das Impftempo in den USA.

- VON FRANK HERRMANN

„Verweigert euch dem experiment­ellen Vakzin!“, ruft der hochgewach­sene Mann, während er eine Zeitung anpreist. Er steht in New York an einer Kreuzung – mitten in Harlem, das sich als Mekka afroamerik­anischer Kultur versteht. Die Botschaft, die er verbreitet, ist die von Louis Farrakhan. Der Prediger der Nation of Islam, bekannt für bisweilen abstruse Thesen, behauptete bereits vor Monaten, man dürfe dem Impfstoff nicht trauen. Die Regierung in Washington habe schwarze Amerikaner schon zu oft mit medizinisc­hen Experiment­en hinters Licht geführt, als dass man ihren Beteuerung­en Glauben schenken könne.

Das Misstrauen wurzelt in leidvollen Erfahrunge­n mit menschenve­rachtenden Versuchen, die in Tuskegee ihren traurigen Höhepunkt fanden. In der Kleinstadt in Alabama hatte man an Syphilis erkrankten

Schwarzen eine Behandlung lediglich vorgegauke­lt. Als wären sie Labortiere, sollten die Menschen beobachtet werden, um den „natürliche­n“Verlauf der Krankheit zu studieren. 40 Jahre lang, von 1932 bis 1972. Darauf bezieht er sich, der Mann an der Straßenkre­uzung: Jeder hier weiß auf Anhieb, was mit dem Wort „experiment­ell“gemeint ist.

Gegen solche Vorbehalte kämpft auch Pfarrer Calvin O. Butts an, wenn er gesunden Menschenve­rstand anmahnt. Die Corona-Impfungen seien das Gegenteil des Tuskegee-Kapitels, denn diesmal mache keine Regierung irgendwem etwas vor. Butts‘ Kirche, die Abyssinian Baptist Church, dient schon seit geraumer Zeit als Impfzentru­m. Das Vakzin koste nichts, steht auf Transparen­ten, die der Reverend an einen Zaun binden ließ. Darunter die Freiheitss­tatue. Mit Mund-Nasen-Schutz.

Das Problem, das die USA seit zwei, drei Wochen haben, ist mit dem

Begriff „vaccine hesitancy“kurz und prägnant beschriebe­n. Viele zögern, bevor sie sich impfen lassen – oder auch nicht. Impfstoff ist so reichlich vorhanden, dass seit dem 19. April jeder Erwachsene einen Termin vereinbare­n kann. In New York wird niemand mehr abgewiesen, wenn er sich ohne Termin in die Warteschla­ngen vor den Impfzentre­n einreiht.

Das ändert nichts an den rückläufig­en Zahlen. Waren es in der dritten Aprilwoche 3,4 Millionen Amerikaner, die an einem durchschni­ttlichen Tag eine Spritze bekamen, so sind es aktuell nur noch 2,4 Millionen. 44 Prozent der Gesamtbevö­lkerung hat man, Stand Montag, mindestens eine Dosis verabreich­t, etwa ein Drittel ist vollständi­g immunisier­t. Was allerdings auffällt, sind große regionale Unterschie­de. An der Spitze liegen vier Neuengland-Staaten, allen voran New Hampshire (61 Prozent mindestens einmal geimpft), gefolgt von Massachuse­tts, Connecticu­t und

Maine. Das Schlusslic­ht bilden drei Bundesstaa­ten im Süden, Mississipp­i, Louisiana und Alabama, mit Quoten zwischen 31 und 33 Prozent.

Am geringsten ist die Impfbereit­schaft unter evangelika­len Christen, die sich in ihrer großen Mehrheit zur Republikan­ischen Partei bekennen. Nach einer Erhebung der Monmouth University lehnen es zwei Fünftel der Anhänger der Republikan­er ab, sich gegen das Coronaviru­s immunisier­en zu lassen – Wähler der Demokraten nur zu fünf Prozent. Gerüchte, nach denen bei der Herstellun­g der Impfstoffe Zelllinien abgetriebe­ner Föten verwendet werden, haben Abtreibung­sgegner offenbar in ihrer Skepsis bestärkt. Den Hauptgrund aber sehen Kenner des Milieus in einer fatalistis­chen Weltsicht: Wenn Gott wolle, dass man sterbe, dann sei das eben so.

Sean Daniels, Pastor einer Baptistenk­irche in Kentucky, beobachtet zudem eine ausgeprägt­e Aversion

gegenüber wissenscha­ftlichem Fortschrit­t. Wann immer etwas neu sei, stürze man sich in seinem Umfeld auf jedes Gerücht, um das Neue abzuwehren, erzählte er neulich im Fernsehsen­der PBS. Philip Keiser, Chef des Gesundheit­samts in Galveston County, einem Landkreis an der texanische­n Golfküste, erklärt das Zögern mit einer Art Abwartehal­tung. In seinem Kreis, so Keiser, lehne es nur ein Viertel der Bewohner kategorisc­h ab, sich einen „Schuss“in den Oberarm geben zu lassen. Ein weiteres Viertel wolle erst sehen, wie es bereits Geimpften ergehe. Diese Menschen zu überzeugen, bedeute ein hartes Stück Arbeit, sei aber möglich. Realistisc­h erreichen lasse sich eine Impfquote von ungefähr 75 Prozent, meint der Arzt.

 ?? FOTO: DPA ?? Den USA gehen die Impfwillig­en aus: keine Warteschla­nge hinter dem Hinweissch­ild „Impfungen“.
FOTO: DPA Den USA gehen die Impfwillig­en aus: keine Warteschla­nge hinter dem Hinweissch­ild „Impfungen“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany