Warum in Amerika die Impfskepsis wächst
Misstrauen und Vorbehalte bei Afroamerikanern, aber auch bei Evangelikalen und Wählern der Republikaner bremsen das Impftempo in den USA.
„Verweigert euch dem experimentellen Vakzin!“, ruft der hochgewachsene Mann, während er eine Zeitung anpreist. Er steht in New York an einer Kreuzung – mitten in Harlem, das sich als Mekka afroamerikanischer Kultur versteht. Die Botschaft, die er verbreitet, ist die von Louis Farrakhan. Der Prediger der Nation of Islam, bekannt für bisweilen abstruse Thesen, behauptete bereits vor Monaten, man dürfe dem Impfstoff nicht trauen. Die Regierung in Washington habe schwarze Amerikaner schon zu oft mit medizinischen Experimenten hinters Licht geführt, als dass man ihren Beteuerungen Glauben schenken könne.
Das Misstrauen wurzelt in leidvollen Erfahrungen mit menschenverachtenden Versuchen, die in Tuskegee ihren traurigen Höhepunkt fanden. In der Kleinstadt in Alabama hatte man an Syphilis erkrankten
Schwarzen eine Behandlung lediglich vorgegaukelt. Als wären sie Labortiere, sollten die Menschen beobachtet werden, um den „natürlichen“Verlauf der Krankheit zu studieren. 40 Jahre lang, von 1932 bis 1972. Darauf bezieht er sich, der Mann an der Straßenkreuzung: Jeder hier weiß auf Anhieb, was mit dem Wort „experimentell“gemeint ist.
Gegen solche Vorbehalte kämpft auch Pfarrer Calvin O. Butts an, wenn er gesunden Menschenverstand anmahnt. Die Corona-Impfungen seien das Gegenteil des Tuskegee-Kapitels, denn diesmal mache keine Regierung irgendwem etwas vor. Butts‘ Kirche, die Abyssinian Baptist Church, dient schon seit geraumer Zeit als Impfzentrum. Das Vakzin koste nichts, steht auf Transparenten, die der Reverend an einen Zaun binden ließ. Darunter die Freiheitsstatue. Mit Mund-Nasen-Schutz.
Das Problem, das die USA seit zwei, drei Wochen haben, ist mit dem
Begriff „vaccine hesitancy“kurz und prägnant beschrieben. Viele zögern, bevor sie sich impfen lassen – oder auch nicht. Impfstoff ist so reichlich vorhanden, dass seit dem 19. April jeder Erwachsene einen Termin vereinbaren kann. In New York wird niemand mehr abgewiesen, wenn er sich ohne Termin in die Warteschlangen vor den Impfzentren einreiht.
Das ändert nichts an den rückläufigen Zahlen. Waren es in der dritten Aprilwoche 3,4 Millionen Amerikaner, die an einem durchschnittlichen Tag eine Spritze bekamen, so sind es aktuell nur noch 2,4 Millionen. 44 Prozent der Gesamtbevölkerung hat man, Stand Montag, mindestens eine Dosis verabreicht, etwa ein Drittel ist vollständig immunisiert. Was allerdings auffällt, sind große regionale Unterschiede. An der Spitze liegen vier Neuengland-Staaten, allen voran New Hampshire (61 Prozent mindestens einmal geimpft), gefolgt von Massachusetts, Connecticut und
Maine. Das Schlusslicht bilden drei Bundesstaaten im Süden, Mississippi, Louisiana und Alabama, mit Quoten zwischen 31 und 33 Prozent.
Am geringsten ist die Impfbereitschaft unter evangelikalen Christen, die sich in ihrer großen Mehrheit zur Republikanischen Partei bekennen. Nach einer Erhebung der Monmouth University lehnen es zwei Fünftel der Anhänger der Republikaner ab, sich gegen das Coronavirus immunisieren zu lassen – Wähler der Demokraten nur zu fünf Prozent. Gerüchte, nach denen bei der Herstellung der Impfstoffe Zelllinien abgetriebener Föten verwendet werden, haben Abtreibungsgegner offenbar in ihrer Skepsis bestärkt. Den Hauptgrund aber sehen Kenner des Milieus in einer fatalistischen Weltsicht: Wenn Gott wolle, dass man sterbe, dann sei das eben so.
Sean Daniels, Pastor einer Baptistenkirche in Kentucky, beobachtet zudem eine ausgeprägte Aversion
gegenüber wissenschaftlichem Fortschritt. Wann immer etwas neu sei, stürze man sich in seinem Umfeld auf jedes Gerücht, um das Neue abzuwehren, erzählte er neulich im Fernsehsender PBS. Philip Keiser, Chef des Gesundheitsamts in Galveston County, einem Landkreis an der texanischen Golfküste, erklärt das Zögern mit einer Art Abwartehaltung. In seinem Kreis, so Keiser, lehne es nur ein Viertel der Bewohner kategorisch ab, sich einen „Schuss“in den Oberarm geben zu lassen. Ein weiteres Viertel wolle erst sehen, wie es bereits Geimpften ergehe. Diese Menschen zu überzeugen, bedeute ein hartes Stück Arbeit, sei aber möglich. Realistisch erreichen lasse sich eine Impfquote von ungefähr 75 Prozent, meint der Arzt.