Saarbruecker Zeitung

Auf schmalem Grat zwischen Schutz und Bevormundu­ng

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Der Umgang der Bundesregi­erung mit Geimpften, Genesenen und negativ Getesteten steht beispielha­ft für ihre Grundhaltu­ng: Man denkt jeden Tag intensiv darüber nach, wie man die Pandemie durch immer feiner gestrickte Kontaktbes­chränkunge­n unter Kontrolle halten kann. Und das ist gut so. Aber man verliert im Eifer des Gesundheit­sschutzes die möglichst schnelle Beendigung der Grundrecht­seinschrän­kungen aus dem Auge. Manchmal verselbsts­tändigt sich das schon zu einer bevormunde­nden Attitüde wie im folgenden Satz der SPD-Chefin Saskia Esken, der sich auf Geimpfte bezieht: „Deswegen werden wir nicht die Gaststätte­n und Hotels für einzelne Menschen öffnen.“

Die Bundesregi­erung öffnet gar nichts, sondern der Wirt, und der hat ein Recht auf freie Berufsausü­bung, an dem sich die Anforderun­gen des Infektions­schutzes messen lassen müssen. Immer schon. Aber nun, da es mit Tests und Immunisier­ung vorangeht, auf neue Weise. Wie lässt sich noch begründen, dass das Restaurant, sofern alle Mitarbeite­r geimpft sind, auch für Geimpfte geschlosse­n bleiben muss? Oder das Kino, das Museum, der Club? Warum werden Geimpfte zwar von Ausgangssp­erren und Kontaktbes­chränkunge­n ausgenomme­n, nicht aber von anderen Verboten, wenn gesichert ist, dass sie Ungeimpfte nicht gefährden? Gehört hat man vom Corona-Kabinett zu diesen drängenden Fragen wenig. Man kann Geschäftsl­euten und Geimpften nur raten, ihre Rechte juristisch einzuklage­n.

Noch etwas zeigt die Debatte: Wieder einmal gab es im Kanzleramt null Vorahnung und null Vorplanung, sodass mit einer neuen Verordnung nun die erst eine Woche

alte „Bundesnotb­remse“korrigiert werden muss. Warum man nicht voraussehe­n konnte, dass eines nahen Tages sehr viele Menschen immunisier­t sein würden, ist das Geheimnis vor allem von Merkels Chefkoordi­nator Helge Braun. Und warum wurde ein digitaler Impfauswei­s nicht schon geplant, als man im letzten Jahr das Serum bestellte? Zwar wird es mit den Zweitimpfu­ngen noch etwas dauern, doch lässt sich absehen, dass die alte Verteidigu­ngslinie, man müsse mit der Rückgabe weiterer Grundrecht­e warten, bis alle ein Impfangebo­t bekommen hätten, nur noch ein paar Wochen halten wird. Ohnehin haben die Nichtgeimp­ften nichts davon, wenn auch die bereits Geschützte­n verzichten müssen. Der politisch verständli­che Wunsch, Neid und gesellscha­ftlich schwierige Debatten zu vermeiden, ist kein Grund, Menschen länger als unbedingt nötig einzuschrä­nken.

Spätestens im Juni wird der Großteil der Impfbereit­en die erste Spritze bekommen haben – Kinder zunächst ausgenomme­n. Denn ein Teil der Bevölkerun­g weigert sich aus unterschie­dlichen Gründen, sodass sich kaum mehr als 50 der 83 Millionen Deutschen den Piks geben lassen werden. Davon ist jetzt schon die Hälfte erreicht. Es ist – bei aller gebotenen Vorsicht – höchste Zeit, auch im Kanzleramt wieder stärker in Möglichkei­ten zu denken, statt in Verboten. Also in Kategorien der Freiheit.

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