Lobes-Hymnen auf Robin Gosens
Deutsche Fußball-Nationalmannschaft zeigt glänzende Offensivleistung beim 4:2 gegen Titelverteidiger Portugal. Gosens überragt alle.
Mit weit ausgebreiteten Armen zelebriert Robin Gosens den Erfolg der deutschen Nationalmannschaft gegen Portugal. Glaubt man den Kommentatoren, dann war es vor allem sein eigener. Beim 4:2 gegen den Titelverteidiger bescheinigten sie dem 26-jährigen Linksverteidiger von Atalanta Bergamo im erst neunten Länderspiel eine herausragende Leistung. Aber auch das Team insgesamt verdiente sich gute Kritiken.
Sport Seite D 1
MÜNCHEN/HERZOGENAURACH (sid) Die euphorisierten Spieler herzten ihre Familien, der erleichterte Joachim Löw genoss das berauschende Glücksgefühl aber nur kurz. Nach der mitreißendsten Turnierleistung einer deutschen Nationalmannschaft seit dem WM-Triumph 2014 begab sich der Bundestrainer schnell wieder in den „Tunnel“. Der Auftrag an seine beim erlösenden 4:2 (2:1) gegen Portugal teils entfesselt auftrumpfende Elf: „Gegen Ungarn müssen wir nachlegen.“
Ein Sieg am Mittwoch (21 Uhr/ ZDF) würde der DFB-Auswahl um die herausragende Turnier-Entdeckung Robin Gosens den Einzug ins EM-Achtelfinale sichern. Doch daran zweifelt nach der rauschhaften Vorstellung niemand. Nicht nur Thomas Müller verspürte „eine kleine Euphorie“. Diese begleitete die Nationalspieler auf ihrer Ehrenrunde in München, bei der Ankunft kurz vor Mitternacht im „Campo“Herzogenaurach vor rund 40 Fans und am freien Sonntag. „Die eigenen Kinder, die Familie vermisst man schon“, sagte Joshua Kimmich nach der Verabschiedung von seinen Liebsten, fügte aber mit einem Grinsen an: „Ich hoffe, dass ich sie noch ein paar Wochen vermissen werde.“
Das Selbstvertrauen ist nach dem Fehlstart gegen Frankreich zurück, der sture Löw durfte sich gegenüber seinen zahlreichen Kritikern bestätigt fühlen. Der Bundestrainer änderte weder das Personal noch das Grundsystem, doch er justierte an den richtigen Stellen nach. Nach dem mutlosen Auftritt gegen den Weltmeister ließ Löw seine Spieler gegen den Titelverteidiger von der Leine. „Unser Plan ist aufgegangen“, stellte er zufrieden fest, während die deutschen Fans unter den 12 926 Zuschauern noch lange glückselig „Oh, wie ist das schön“sangen.
„Wir hatten deutlich mehr Freude in der Offensive“, betonte Vorkämpfer Müller. Das galt für ihn selber, aber auch für den immer gefährlichen Serge Gnabry und den bärenstarken Kai Havertz, der Olaf Thon als jüngsten deutschen EM-Torschützen (51.) ablöste. Die an allen Treffern beteiligte Flügelzange mit Kimmich und dem sensationell aufspielenden Gosens war von den überrascht wirkenden Portugiesen nicht zu stoppen.
„Jetzt sind wir da“, schrieb Mats Hummels bei Instagram: „Was ein geiler Fußballabend.“Dieses Gefühl begleitete die Spieler bei der Regeneration, aber Löw dachte schon weiter. Mit seinem Stab arbeitete er das Spiel auf, der Rückstand bei einem Konter nach eigener Ecke durch Cristiano Ronaldos erstes Tor gegen das DFB-Team überhaupt (15.) ärgerte ihn. Doch ansonsten fand er wenig Anlass zur Kritik. Nach dem Gegentor habe seine Mannschaft „viel Moral bewiesen“und einen „sehr guten Spirit gezeigt“. Man habe nicht „den Faden verloren“und „die Ruhe bewahrt“. Kurzum: „So ein Erfolg gibt eine gewisse Stärkung.“
„Wir waren mutiger, kreativer und einfach besser“, beschrieb Müller den Spaß-Fußball, der die Portugiesen zu einem EM-historischen Eigentor-Doppelschlag durch Rúben Dias (35.) und den Dortmunder Raphaël Guerreiro (39.) zwang.
Für Gosens war es ein „unfassbarer Abend auf allen Ebenen“. Mit seinem Kopfballtor nach Kimmich-Flanke krönte der von der Uefa zum „Star of the Match“gekürte Gosens (60.) seine Glanzleistung und plauderte danach munter drauf los: „Wir haben uns gegenseitig gepusht, auch mal für eine defensive Grätsche. Das ist doch affengeil. Dass man für sein Land eine EM bestreiten kann und in so einem Spiel ein Tor schießt, das ist magisch.“
Allerdings gibt es noch einige Ansätze für Verbesserungen. Beim zweiten Gegentor durch Diogo Jota (67.) war Löws Team abermals nach einer Standardsituation völlig unsortiert. Und hätte der Ex-Münchner Renato Sanches nicht nur den Pfosten getroffen (79.), wäre noch kräftig gezittert worden. Müller mahnte daher, dass man nicht „überheblich“werden dürfe. Aber: „Wir dürfen an unsere Qualität glauben.“
Gegen die defensiveren Ungarn erwartet Löw ein „zäheres“Spiel. Ein Einsatz der angeschlagen ausgewechselten Hummels (Knie), Gosens (Adduktoren) und Ilkay Gündogan ( Wade) scheint nicht in Gefahr. „Ich glaube, es ist nichts Dramatisches“, sagte Löw, der auch am Sonntag nicht abschalten konnte: „Man ist im Tunnel drin und hat keine Tage, bei denen man völlig runterfährt.“Dies soll, wenn es nach allen Beteiligten geht, bei dieser EM auch noch lange so bleiben.