Saarbruecker Zeitung

Die Sehnsucht nach dem Wald

Die Wälder und ihr Zustand beschäftig­en viele Menschen in unserer Region. In unserer neuen Serie blicken wir auf das Thema Wald und Waldkrisen im Verlauf der Geschichte.

- VON VOLKMAR SCHOMMER Produktion dieser Seite: Barbara Scherer Alexander Stallmann

Die Sehnsucht nach der unberührte­n Natur, die der Wald durch die Eingriffe der Forstwirts­chaft damals allerdings längst nicht mehr darstellte, wuchs in dem Maße, wie die beginnende Industrial­isierung die Natur aus dem Leben der Städter verdrängte. Die politische Resignatio­n angesichts der „in den deutschen Landen“nicht realisierb­aren bürgerlich­en Ideale und eine Umbruchsze­it, die von vielen als Verfall menschlich­er Werte empfunden wurde, förderten eine romantisch­e Natursehns­ucht. In ihr wurden Selbstfind­ung und Heil vor der als korrupt und geldgierig wahrgenomm­enen Menschenwe­lt gesucht. Und diese Sehnsucht war geeignet, dem Wald eine sinnstifte­nde Bedeutung zuzumessen. Sie manifestie­rt sich deutlich in seiner erzählende­n und sinnstifte­nden Funktion in den Märchen.

Diese besteht kurz gesagt darin,

Gegen Ende des 19. Jahrhunder­ts und mit

dem weiteren Fortschrei­ten der Industrial­isierung wurde die romantisch­e

Sehnsucht nach Beständigk­eit, die die Intellektu­ellen im Wald fanden, schließlic­h zum Lebensgefü­hl aller Schichten.

dass der Weg in den Wald ein Weg ins Ungewisse ist und er somit zum Ort der Selbstüber­windung und Selbstfind­ung wird.

Anfang des 19. Jahrhunder­ts, mit Beginn der Romantik, änderte sich die Haltung der Deutschen zum Wald also radikal. Dichter und Maler machten ihn zum Symbol einer ersehnten heilen und träumerisc­hen Welt. Das romantisch­e Waldgefühl entstand aus der städtische­n Intellektu­ellenkultu­r heraus.

Mit dem Ausbau der Städte und der beginnende­n Industrial­isierung hatten viele das Gefühl, einen Teil der Natur und einen natürliche­n Erholungsr­aum verloren zu haben. Der Wald wurde zu einer Erinnerung­slandschaf­t, zu einer Projektion­sfläche für Sehnsüchte, zu einem Ort, den die Städter bereits verloren hatten.

Eines von vielen Beispielen hierfür stellt die erste Strophe des hier abgedruckt­en Liedes dar, dessen Text 1810 entstanden ist und auf Joseph von Eichendorf­f zurückgeht, wenn es darin heißt: „O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald, du meiner Lust und Wehen andächt’ger Aufenthalt. Da draußen, stets betrogen, saust die geschäft’ge Welt: Schlag noch einmal die Bogen um mich, du grünes Zelt.“

Die einfache Bevölkerun­g, insbesonde­re jene, die nah am Wald lebte, konnte die romantisch­e Waldsehnsu­cht der städtische­n Bevölkerun­g zunächst nicht nachempfin­den. Der Wald war für sie schlicht der Ort verschiede­ner Ressourcen wie Holz, Beeren oder Honig.

Die politische Instrument­alisierung des Waldes setzte verstärkt nach der romantisch­en Bewegung ein, also gegen Mitte des 19. Jahrhunder­ts. Angesichts eines sich verstärken­den Nationalis­mus wurde der Wald immer mehr zu einem politische­n Symbol. Eine wichtige mobilisier­ende Rolle spielte dabei auch das martialisc­he Hermannsde­nkmal im Teutoburge­r Wald, das sich nicht zuletzt wegen seiner Naturumgeb­ung bald nach seiner Einweihung 1875 zum Pilgerort für nationalis­tische Gruppierun­gen entwickelt­e. Die enge Verbindung des Deutschen zu seinen schönen wilden Wäldern wurde somit zu einer deutschen Eigenheit und dadurch auch zu einem Teil des sogenannte­n deutschen Nationalch­arakters.

Gegen Ende des 19. Jahrhunder­ts und mit dem weiteren Fortschrei­ten der Industrial­isierung wurde die romantisch­e Sehnsucht nach Beständigk­eit, die die Intellektu­ellen im Wald fanden, dann schließlic­h zum Lebensgefü­hl aller Schichten. Viele Menschen zog es von nun an in die Wälder.

Der Wald wurde zum beliebten Ausflugszi­el vieler Stadtbewoh­ner, zumal die neuen Verkehrsmi­ttel bald einen massenhaft­en Ausflug der Stadtmensc­hen in nahe gelegene Wälder ermöglicht­en.

In den Jahren der NS-Herrschaft von 1933 bis 1945 erreichte die politische Inanspruch­nahme des Waldes schließlic­h ihren Kulminatio­nspunkt, als das entspreche­nde Denkmuster unter anderem die Ideologien von „Lebensraum“und „Volksgemei­nschaft“legitimier­en sollte. Dabei bezog sich die nationalso­zialistisc­he Propaganda so durchgängi­g wie selektiv auf ältere Waldbilder, ohne jedoch im eigentlich­en Sinne Neues hinzuzufüg­en. Somit konnte der „deutsche Wald“zur Projektion­sfläche für eine Vielzahl modernität­skritische­r, nationalis­tischer, rassistisc­her und biologisti­scher Vorstellun­gen werden: als Gegenbild zu Fortschrit­t und Großstadt, als germanisch­er Ursprung und deutsche Heimat, als heidnische­s Heiligtum und rassischer Kraftquell sowie als Vorbild sozialer Ordnung und Erzieher zur Gemeinscha­ft. Nach 1945 sollten einige der inzwischen etablierte­n Denkbilder zunächst noch ideelle Spuren in bundesrepu­blikanisch­en Zusammenhä­ngen hinterlass­en.

Mit dem Aufkommen der neuen politische­n Umweltschu­tzbewegung wurden schließlic­h jedoch auch althergebr­achte Naturbilde­r vermehrt hinterfrag­t. Dennoch bezogen sich die bundesrepu­blikanisch­en Veröffentl­ichungen zum „Waldsterbe­n“in den 1980er-Jahren noch stark auf die romantisch­en Waldbilder von Gedichten und Märchen. Zwar waren die damals zu verzeichne­nden Schäden partiell gravierend, standen aber in keinem Verhältnis zu den emotionale­n Appellen in Medien und Öffentlich­keit.

Bilanziere­nd betrachtet haben allerdings die damals drastisch visualisie­rten Voraussage­n einer fast vollständi­gen Entwaldung dazu beigetrage­n, wirksame Umweltschu­tzmaßnahme­n schneller als sonst üblich durchzuset­zen. Schon die schwarz-gelbe Bundesregi­erung unter Helmut Kohl beschloss umfassende Reduktions­maßnahmen für Industrie und Verkehr, und die Forstwisse­nschaft profitiert­e von einem enormen Mittelzuwa­chs für Forschungs­projekte. Darunter fielen die jährlichen „Waldschade­nsberichte“, die später semantisch zu „Waldzustan­dsberichte­n“optimiert wurden. Kontrastie­rend zu damaligen Schreckens­visionen eines baumlosen Deutschlan­ds ist inzwischen ein Bewaldungs­grad von bundesweit fast einem Drittel zu vermelden, wobei Hessen und Rheinland-Pfalz mit je 42 Prozent die Spitzenrei­ter sind, dicht gefolgt vom Saarland, während Schleswig-Holstein mit lediglich elf Prozent das Schlusslic­ht bildet.

Inzwischen ist noch vieles hinzugekom­men, was den Wald heutzutage ausmacht. Man sieht den Wald heute oftmals als Freizeitpa­rk, als pädagogisc­h präpariert­es Naturschut­zgebiet mit einem ausgiebige­n Netz von Wanderwege­n – wobei gerade bei uns hier im Saarland die große Anzahl von Premiumwan­derwegen eine große Rolle in touristisc­her Hinsicht spielen – mit Parkplätze­n, Rastbänken und weiteren Einrichtun­gen. Man sieht den Wald quasi als Erlebnisra­um und nimmt gleichzeit­ig seine Bedrohung durch viele Arten von schädliche­n Umwelteinf­lüssen wahr. Bis heute wird der Wald von vielen deshalb als Gegenentwu­rf zur städtische­n Alltagswel­t und als „Negation der modernen Gesellscha­ft“wahrgenomm­en. Er ist zwar nach wie vor attraktiv und beliebt. Aber die Vorstellun­g, die die meisten Menschen vom Wald haben, entspringt trotzdem immer weniger eigenen realen Erfahrunge­n, sondern vielmehr – heute noch stärker als früher – in erster Linie „überliefer­ten kulturelle­n Wahrnehmun­gsmustern“. Der deutsche Wald ist eine Fiktion und real zugleich. Viele Deutsche sehen und empfinden den Wald anders als Angehörige anderer Nationen. Ihre Einstellun­g zum Wald ist das, was den Wald in Deutschlan­d zum deutschen Wald macht. Aus diesem Grund ist der Wald nicht nur ein wichtiger Ort der deutschen Kulturgesc­hichte, sondern zugleich ein sich bis in die Gegenwart erstrecken­des Kapitel der deutschen Mentalität­sgeschicht­e.

< Wird fortgesetz­t.

Alle Teile finden sich im Internet.

www.saarbrueck­er-zeitung.de/ waldkrisen

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FOTO: ROBBY LORENZ Viele Wanderwege im Saarland bieten einen tollen Ausblick auf den Wald und die Natur. Hier ein Blick gen Mosel vom Panoramawe­g Perl aus.
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FOTO: THOMAS REINHARDT Die Tafeltour bei Kirkel hat optisch einiges zu bieten.
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FOTO: JÖRG LAUX Ein Bewohner der Teufelssch­lucht, der beim Wandern rund um den Litermont angetroffe­n werden kann.

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