Die Sehnsucht nach dem Wald
Die Wälder und ihr Zustand beschäftigen viele Menschen in unserer Region. In unserer neuen Serie blicken wir auf das Thema Wald und Waldkrisen im Verlauf der Geschichte.
Die Sehnsucht nach der unberührten Natur, die der Wald durch die Eingriffe der Forstwirtschaft damals allerdings längst nicht mehr darstellte, wuchs in dem Maße, wie die beginnende Industrialisierung die Natur aus dem Leben der Städter verdrängte. Die politische Resignation angesichts der „in den deutschen Landen“nicht realisierbaren bürgerlichen Ideale und eine Umbruchszeit, die von vielen als Verfall menschlicher Werte empfunden wurde, förderten eine romantische Natursehnsucht. In ihr wurden Selbstfindung und Heil vor der als korrupt und geldgierig wahrgenommenen Menschenwelt gesucht. Und diese Sehnsucht war geeignet, dem Wald eine sinnstiftende Bedeutung zuzumessen. Sie manifestiert sich deutlich in seiner erzählenden und sinnstiftenden Funktion in den Märchen.
Diese besteht kurz gesagt darin,
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und mit
dem weiteren Fortschreiten der Industrialisierung wurde die romantische
Sehnsucht nach Beständigkeit, die die Intellektuellen im Wald fanden, schließlich zum Lebensgefühl aller Schichten.
dass der Weg in den Wald ein Weg ins Ungewisse ist und er somit zum Ort der Selbstüberwindung und Selbstfindung wird.
Anfang des 19. Jahrhunderts, mit Beginn der Romantik, änderte sich die Haltung der Deutschen zum Wald also radikal. Dichter und Maler machten ihn zum Symbol einer ersehnten heilen und träumerischen Welt. Das romantische Waldgefühl entstand aus der städtischen Intellektuellenkultur heraus.
Mit dem Ausbau der Städte und der beginnenden Industrialisierung hatten viele das Gefühl, einen Teil der Natur und einen natürlichen Erholungsraum verloren zu haben. Der Wald wurde zu einer Erinnerungslandschaft, zu einer Projektionsfläche für Sehnsüchte, zu einem Ort, den die Städter bereits verloren hatten.
Eines von vielen Beispielen hierfür stellt die erste Strophe des hier abgedruckten Liedes dar, dessen Text 1810 entstanden ist und auf Joseph von Eichendorff zurückgeht, wenn es darin heißt: „O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald, du meiner Lust und Wehen andächt’ger Aufenthalt. Da draußen, stets betrogen, saust die geschäft’ge Welt: Schlag noch einmal die Bogen um mich, du grünes Zelt.“
Die einfache Bevölkerung, insbesondere jene, die nah am Wald lebte, konnte die romantische Waldsehnsucht der städtischen Bevölkerung zunächst nicht nachempfinden. Der Wald war für sie schlicht der Ort verschiedener Ressourcen wie Holz, Beeren oder Honig.
Die politische Instrumentalisierung des Waldes setzte verstärkt nach der romantischen Bewegung ein, also gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Angesichts eines sich verstärkenden Nationalismus wurde der Wald immer mehr zu einem politischen Symbol. Eine wichtige mobilisierende Rolle spielte dabei auch das martialische Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald, das sich nicht zuletzt wegen seiner Naturumgebung bald nach seiner Einweihung 1875 zum Pilgerort für nationalistische Gruppierungen entwickelte. Die enge Verbindung des Deutschen zu seinen schönen wilden Wäldern wurde somit zu einer deutschen Eigenheit und dadurch auch zu einem Teil des sogenannten deutschen Nationalcharakters.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und mit dem weiteren Fortschreiten der Industrialisierung wurde die romantische Sehnsucht nach Beständigkeit, die die Intellektuellen im Wald fanden, dann schließlich zum Lebensgefühl aller Schichten. Viele Menschen zog es von nun an in die Wälder.
Der Wald wurde zum beliebten Ausflugsziel vieler Stadtbewohner, zumal die neuen Verkehrsmittel bald einen massenhaften Ausflug der Stadtmenschen in nahe gelegene Wälder ermöglichten.
In den Jahren der NS-Herrschaft von 1933 bis 1945 erreichte die politische Inanspruchnahme des Waldes schließlich ihren Kulminationspunkt, als das entsprechende Denkmuster unter anderem die Ideologien von „Lebensraum“und „Volksgemeinschaft“legitimieren sollte. Dabei bezog sich die nationalsozialistische Propaganda so durchgängig wie selektiv auf ältere Waldbilder, ohne jedoch im eigentlichen Sinne Neues hinzuzufügen. Somit konnte der „deutsche Wald“zur Projektionsfläche für eine Vielzahl modernitätskritischer, nationalistischer, rassistischer und biologistischer Vorstellungen werden: als Gegenbild zu Fortschritt und Großstadt, als germanischer Ursprung und deutsche Heimat, als heidnisches Heiligtum und rassischer Kraftquell sowie als Vorbild sozialer Ordnung und Erzieher zur Gemeinschaft. Nach 1945 sollten einige der inzwischen etablierten Denkbilder zunächst noch ideelle Spuren in bundesrepublikanischen Zusammenhängen hinterlassen.
Mit dem Aufkommen der neuen politischen Umweltschutzbewegung wurden schließlich jedoch auch althergebrachte Naturbilder vermehrt hinterfragt. Dennoch bezogen sich die bundesrepublikanischen Veröffentlichungen zum „Waldsterben“in den 1980er-Jahren noch stark auf die romantischen Waldbilder von Gedichten und Märchen. Zwar waren die damals zu verzeichnenden Schäden partiell gravierend, standen aber in keinem Verhältnis zu den emotionalen Appellen in Medien und Öffentlichkeit.
Bilanzierend betrachtet haben allerdings die damals drastisch visualisierten Voraussagen einer fast vollständigen Entwaldung dazu beigetragen, wirksame Umweltschutzmaßnahmen schneller als sonst üblich durchzusetzen. Schon die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Helmut Kohl beschloss umfassende Reduktionsmaßnahmen für Industrie und Verkehr, und die Forstwissenschaft profitierte von einem enormen Mittelzuwachs für Forschungsprojekte. Darunter fielen die jährlichen „Waldschadensberichte“, die später semantisch zu „Waldzustandsberichten“optimiert wurden. Kontrastierend zu damaligen Schreckensvisionen eines baumlosen Deutschlands ist inzwischen ein Bewaldungsgrad von bundesweit fast einem Drittel zu vermelden, wobei Hessen und Rheinland-Pfalz mit je 42 Prozent die Spitzenreiter sind, dicht gefolgt vom Saarland, während Schleswig-Holstein mit lediglich elf Prozent das Schlusslicht bildet.
Inzwischen ist noch vieles hinzugekommen, was den Wald heutzutage ausmacht. Man sieht den Wald heute oftmals als Freizeitpark, als pädagogisch präpariertes Naturschutzgebiet mit einem ausgiebigen Netz von Wanderwegen – wobei gerade bei uns hier im Saarland die große Anzahl von Premiumwanderwegen eine große Rolle in touristischer Hinsicht spielen – mit Parkplätzen, Rastbänken und weiteren Einrichtungen. Man sieht den Wald quasi als Erlebnisraum und nimmt gleichzeitig seine Bedrohung durch viele Arten von schädlichen Umwelteinflüssen wahr. Bis heute wird der Wald von vielen deshalb als Gegenentwurf zur städtischen Alltagswelt und als „Negation der modernen Gesellschaft“wahrgenommen. Er ist zwar nach wie vor attraktiv und beliebt. Aber die Vorstellung, die die meisten Menschen vom Wald haben, entspringt trotzdem immer weniger eigenen realen Erfahrungen, sondern vielmehr – heute noch stärker als früher – in erster Linie „überlieferten kulturellen Wahrnehmungsmustern“. Der deutsche Wald ist eine Fiktion und real zugleich. Viele Deutsche sehen und empfinden den Wald anders als Angehörige anderer Nationen. Ihre Einstellung zum Wald ist das, was den Wald in Deutschland zum deutschen Wald macht. Aus diesem Grund ist der Wald nicht nur ein wichtiger Ort der deutschen Kulturgeschichte, sondern zugleich ein sich bis in die Gegenwart erstreckendes Kapitel der deutschen Mentalitätsgeschichte.
< Wird fortgesetzt.
Alle Teile finden sich im Internet.
www.saarbruecker-zeitung.de/ waldkrisen