Wie Großbritannien sich gegen Migranten abschotten will
DOVER/LONDON (dpa) Menschen, die sich auf dem Meer in überfüllte Schlauchboote quetschen und hoffen, dass das fragile Gefährt sie lebend ans Ufer bringt: Immer und immer wieder spielen sich solche Szenen auf dem Mittelmeer ab. Aber auch im Ärmelkanal, der Großbritannien und Frankreich trennt, gehören sie schon fast zum Alltag.
Mehr als 4000 Menschen machten sich offiziellen Zahlen zufolge in diesem Jahr bereits in den ersten fünf Monaten des Jahres von der französischen Küste aus auf den Weg über den Kanal, im Juni soll mit mehr als 2000 Überquerungen laut BBC sogar ein neuer Rekord erreicht worden sein. Im Jahr zuvor kamen mehr als 8000 Menschen.
Für eine so gefährliche Route, auf der auch immer wieder Menschen wegen der starken Strömung oder Bootsunfällen ums Leben kommen, ist das zwar viel – für ein Land mit rund 66 Millionen Einwohnern aber noch immer eine überschaubare Zahl. Doch die Bilder der vollen Flüchtlingsboote sind für die Regierung in London ein Problem.
Das liegt auch am Brexit. Die Kontrolle über die eigenen Grenzen zurückzugewinnen: Das war eines der Versprechen, mit dem die „Vote Leave“-Kampagne ihre Anhänger vom EU-Austritt überzeugte. „Heute ist Immigration viel weniger ein Thema in der britischen Bevölkerung als noch vor fünf Jahren“, meint Jonathan Portes, Einwanderungsexperte der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“. Trotzdem hat sich allen voran Innenministerin Priti Patel in den Kopf gesetzt, das Versprechen durchzusetzen. Menschen, die unangekündigt an den Küsten in Dover aufschlagen, gelten in Kreisen der Tory-Partei als Zeichen des politischen Kontrollverlusts.
„Wir haben eine Innenministerin, die den Ruf hat, eine ideologische, rechtskonservative Pro-Brexit-Hardlinerin zu sein. Sie hat ihre Karriere darauf aufgebaut“, erklärt Portes. Erst kürzlich ließ sich die 49-Jährige bei der Festnahme von Schleusern neben der Polizei ablichten. Halb-öffentlich denkt sie gern darüber nach, Schlauchboote mit Kriegsschiffen aufzuhalten oder Asylsuchende in afrikanische Zentren auszulagern. „Wir schließen keine Option aus, die illegale Migration reduzieren könnte und den Druck auf unser kaputtes Asyl-System verringert“, heißt es dazu auf Anfrage aus dem Innenministerium. Ein Urteil bescheinigte Patel, dass Unterkünfte für Asylsuchende den Minimalstandards beim Corona-Schutz nicht entsprechen.
Großbritanniens Austritt aus der EU bedeutet nicht nur, dass für EU-Bürger die Zeiten des freien Wohnens und Arbeitens im Land vorbei sind. Laut aktuellen Plänen soll für Asylsuchende künftig ein Zwei-Klassen-System gelten: So sollen Flüchtlinge, die auf illegalem Wege ins Land gekommen sind, langfristig Nachteile und Einschränkungen gegenüber jenen haben, die auf legalem Wege ankommen. Die Möglichkeiten für die legale Einwanderung sind jedoch kompliziert und begrenzt – und damit oft keine Alternative.
Experte Portes hält die Zunahme der Überfahrten auch für einen
Nebeneffekt der Pandemie. Viele Flugzeuge oder Züge, über die Flüchtende in anderen Zeiten nach Großbritannien kamen, standen monatelang still. „Es ist also kein Anstieg des Flüchtlingsstroms, sondern sogar das Gegenteil“, erklärt der Migrationsforscher. „Der Strom ist nur sichtbarer und die Bedingungen gefährlicher geworden.“
Innenministerin Patel will sich damit nicht abfinden. In Verhandlungen versucht sie EU-Staaten zu überreden, Flüchtlinge zurückzunehmen– bislang erfolglos. „Das war ziemlich vorhersehbar“, meint Portes. Die Regierung sei mit dem Brexit wissentlich aus dem Dublin-Abkommen ausgestiegen, das ähnliche Regeln vorsieht. Für EU-Länder, die oft viel höhere Flüchtlingszahlen bewältigen müssten, gebe es daher keine Anreize, Großbritannien diesen Gefallen zu tun.