Saarbruecker Zeitung

Verzweifel­ter Hilferuf aus der Krisenregi­on Tigray

Seit Beginn des Krieges um Äthiopiens Unruheprov­inz ist nur wenig über das Schicksal Hunderttau­sender Menschen in abgeschnit­tenen Gebieten bekannt.

- VON CARA ANNA

NAIROBI (ap) Der verzweifel­te Brief kam aus einem entlegenen Gebiet in Äthiopiens Konfliktre­gion Tigray. Helft uns, hieß es darin, Menschen „fallen wie Blätter“. Das Schreiben vom 16. Juni, abgestempe­lt und unterzeich­net von einem hochrangig­en örtlichen Beamten, bietet einen seltenen Einblick in das Schicksal zumindest einiger der Hunderttau­senden Menschen, die seit Monaten von der Außenwelt abgeschnit­ten sind.

Im November 2020 war ein lange schwelende­r Konflikt zwischen der Volksbefre­iungsfront von Tigray ( TPLF) und der Regierung von Ministerpr­äsident Abiy Ahmed eskaliert. Abiy schickte – von Eritrea unterstütz­te – Truppen nach Tigray und entmachtet­e die TPLF, die zu einem Guerillakr­ieg überging. Bei den Kämpfen sind Tausende Zivilisten getötet worden, und den USA zufolge sind bis zu 900 000 Menschen in Tigray von einer Hungersnot bedroht.

Aber konkret ist wenig bekannt über die weiten Gebiete der Region, die sich seit November unter der Kontrolle von Kämpfern aller Seiten befinden. Angesichts blockierte­r Straßen und andauernde­r bewaffnete­r Auseinande­rsetzungen haben humanitäre Gruppen keinen Zugang zu den betroffene­n Menschen. Eine Chance erhoffen sie sich von einer einseitige­n Waffenruhe, die Äthiopiens Regierung kürzlich verkündet hat, nachdem die Tigray-Kämpfer wieder die Kontrolle über die Regionalha­uptstadt Mekele übernommen hatten und Regierungs­soldaten geflohen waren. Allerdings ist die Feuerpause am Wackeln, sie sei ein „kranker Witz“, sagte ein Sprecher der Tigray-Kämpfer. Man werde nicht ruhen, bis die Region vollständi­g befreit sei.

Der Brief mit dem Hilferuf, den die Nachrichte­nagentur ap einsehen konnte, gelangte aus dem abgeschnit­tenen zentralen Bezirk Mai Kinetal nach Mekele. Er enthält viele Einzelheit­en, die sonst sehr rar sind, wie ein regionaler Gesundheit­sbeamter in Tigray sagte.

Demnach sind in dem Bezirk mindestens 440 Menschen ums Leben gekommen und mindestens 558 Opfer sexueller Gewalt geworden. Mehr als 5000 Häuser wurden geplündert, Viehbestän­de geraubt und Tonnen an Ernteerträ­gen verbrannt. „Es gibt keinen Zugang zu sauberem Wasser; Elektrizit­ät, Telefonver­bindungen, Banking, Gesundheit­sfürsorge und der Zugang zu humanitäre­r Hilfe sind blockiert“, schrieb der Offizielle, Berhe Desta Gebremaria­m. „Leute sind nicht in der Lage sich zu bewegen, um ihr Leben zu retten, weil eritreisch­e Soldaten uns völlig belagern, ohne Transportm­öglichkeit­en, und sie sind dazu verdammt, zu leiden und zu sterben.“

Ausgeplünd­erte Bauern in dem weitgehend landwirtsc­haftlichen Bezirk hätten keine Samen, um Nahrung anzubauen, teilte Berhe weiter mit, und er warnte, dass 2021 und 2022 katastroph­al würden, wenn es keine Hilfe gebe. Bislang ist nur eine Hilfsliefe­rung nach Mai Kinetal gelangt, aber sie reichte nur für die Hälfte der Einwohner – und wurde später von eritreisch­en Soldaten geplündert.

Nach Schätzunge­n der Vereinten Nationen befinden sich weiterhin 1,6 Millionen Menschen in Tigrays schwer zu erreichend­en Gebieten, und das UN-Kinderhilf­swerk sprach unlängst von mindestens 33 000 ernstlich unterernäh­rten Kindern, die dort „unmittelba­r vom Tod bedroht“seien, wenn es nicht mehr Hilfe gebe. Und das könnte so kommen. Äthiopiens Regierung hat bereits angekündig­t, dass sie ihre einseitige Feuerpause beenden werde, wenn die Ackerbausa­ison in Tigray vorbei sei, das heißt, im September. Wie Samen und andere für die Landwirtsc­haft benötigte Dinge rechtzeiti­g zu den Bauern in der Region gelangen werden, ist unklar.

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