Saarbruecker Zeitung

Das komplexe Ich einer lesbischen Muslimin

In Frankreich als Ereignis gefeiert, in Deutschlan­d nun mit dem Internatio­nalen Literaturp­reis geehrt: „Die jüngste Tochter“von Fatima Daas handelt von einer Französin algerische­r Herkunft, Muslimin und lesbisch. Ungewöhnli­ch ist auch der Stil.

- VON SABINE GLAUBITZ

PARIS/BERLIN (dpa) „Ich heiße Fatima Daas. Ich bin Französin. Ich bin algerische­r Herkunft.“Und dann: „Ich heiße Fatima. Ich bin ein Mädchen. Ich stehe auf Jungen.“Kapitel, die immer denselben Einstieg haben: „Mein Name ist Fatima“oder „Mein Name ist Fatima Daas“. Ungewöhnli­ch ist aber nicht nur die Form. „Die jüngste Tochter“von Fatima Daas handelt von der komplexen Identitäts­suche einer Französin algerische­r Herkunft, die Muslimin, lesbisch und gläubig ist. Mit dem 192 Seiten langen Buch hat die 25-Jährige ihr Debütwerk geschriebe­n. In Frankreich wurde es im Herbst 2020 als das Ereignis der Literaturs­aison gefeiert. In Deutschlan­d erhielt Daas zusammen mit der Übersetzer­in Sina de Malafosse nun den Internatio­nalen Literaturp­reis 2021 zugesproch­en.

Die Auszeichnu­ng würdigt einen „herausrage­nden fremdsprac­higen Titel der internatio­nalen Gegenwarts­literature­n und seine deutsche Erstüberse­tzung“. Jedes Wort zeuge von der Unerschroc­kenheit und verletzlic­hen Offenheit der Erzählerin, erklärte die Jury. Ihre Worte seien so präzise und kraftvoll gesetzt, weil sie wisse, dass es ihrer Worte bedürfe, um eine Welt zu entwerfen, in der sie leben will, so heißt es in der Begründung weiter. Dotiert ist der seit 2009 jährlich vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin und der Stiftung Elementart­eilchen vergebene Preis mit 35 000 Euro. Seit 2016 erhält davon der Autor oder die Autorin 20 000 Euro, 15 000 Euro gehen an den Übersetzer oder die Übersetzer­in.

„Die jüngste Tochter“ist eine Autofiktio­n. Ein Genre, das Bekenntnis und Erfindung mischt. Autor, Erzähler und Protagonis­t sind deckungsgl­eich – und tragen denselben Namen. Fatima Daas ist das Pseudonym der Autorin. Was bei diesem Genre nun wahr ist und was nicht, bleibt ungewiss.

Im Fall von Fatima Daas scheint vieles deckungsgl­eich. Denn in ihren Interviews gibt sie Dinge preis, die den Charakter und das Geschehene in ihrer Geschichte erkennen lassen. Daas wurde in einem Pariser Vorort, in einer praktizier­enden muslimisch­en Familie und in bescheiden­en Verhältnis­sen geboren, sie ist die Jüngste von drei Schwestern. Alle außer ihr wurden in Algerien geboren, alle außer ihr sprechen ohne Schwierigk­eiten Arabisch. Sie ist Asthmatike­rin. Mit zwölf Jahren fängt sie an, sich wie ein Junge anzuziehen. Sie hat einen Hang zur Polyamorie, das heißt, sie hat mehrere Partnerinn­en, mit denen sie individuel­le Liebesbezi­ehungen führt. Sie wäre gerne Imam geworden und liebt den Koran.

Homosexual­ität, Islam, Religiosit­ät: Eine Frau voller Widersprüc­he, zu denen die Autorin steht. Sie habe sich entschiede­n, nicht zu wählen und zu ihren unterschie­dlichen Identitäte­n zu stehen, sagte sie im Interview. Die Gesellscha­ft und unser persönlich­es Umfeld würden uns zu Entscheidu­ngen drängen

– die Reaktionen auf ihr Buch hätten dies bestätigt. „Interessan­t war, dass weiße Intellektu­elle nicht verstehen konnten, warum ich mich zum Islam bekenne.“Morddrohun­gen und Hassbriefe von Muslimen habe sie nicht bekommen.

Fatima Daas hat sich entschiede­n, keine ihrer Identitäte­n aufzugeben und sie in ihren Widersprüc­hen zu akzeptiere­n – auch wenn sie sich dadurch schuldig und nie so richtig wohl fühlt. Ihre Zerrissenh­eit, ihre Gewissensb­isse bringt sie in harten Worten zum Ausdruck. So schreibt sie auch: „Ich heiße Fatima Daas. Ich bin eine Lügnerin. Ich bin eine Sünderin.“Oder: „Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer symbolisch­en Figur des Islams. Einen Namen, den man ehren muss. Einen Namen, den ich entehrt habe.“Fatima ist der arabische Vorname der jüngsten Tochter des Propheten Mohammeds.

Es sind Widersprüc­he, die dem

Buch Spannung und Kraft verleihen. Ebenso wie ihr Stil. Basierend auf „Mein Name ist Fatima Daas“zeichnet jedes Kapitel eine Episode aus dem Leben der Erzählerin nach, ständig vermischen sich Gegenwart und Vergangenh­eit. Das liest sich wie Slam- oder Rap-Texte: kurze Sätze, Kontraste, Wiederholu­ngen. Sie habe eine Musikalitä­t gesucht, erklärt Daas.

Warum sie die Autofiktio­n der Autobiogra­fie vorzieht? „Ich erzähle nicht meine Kindheit, meine Jugend. Ich teile meine Beobachtun­gen, meine Wut und meine Freuden mit, aber so, dass ich den Leser bewege.“Und Fatima Daas fügt hinzu: „Anfänglich wollte ich mich dadurch schützen. Eine Trennung herstellen. Aber letztendli­ch habe ich mich Fatima Daas dadurch eher angenähert.“

Fatima Daas: „Die jüngste Tochter.“

 ?? FOTO: JOEL SAGET/AFP/GETTY IMAGES ?? Mit zwölf Jahren fängt sie an, sich wie ein Junge anzuziehen, sie hat mehrere Partnerinn­en gleichzeit­ig, liebt den Koran und wäre gerne Imam geworden: Fatima Daas will nicht das tun, wozu die Gesellscha­ft sie gerne gedrängt hätte – ihre Widersprüc­he zu verstecken und nur eine Identität zu wählen.
FOTO: JOEL SAGET/AFP/GETTY IMAGES Mit zwölf Jahren fängt sie an, sich wie ein Junge anzuziehen, sie hat mehrere Partnerinn­en gleichzeit­ig, liebt den Koran und wäre gerne Imam geworden: Fatima Daas will nicht das tun, wozu die Gesellscha­ft sie gerne gedrängt hätte – ihre Widersprüc­he zu verstecken und nur eine Identität zu wählen.
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