Saarbruecker Zeitung

Hartmann kann ohne Ringen nicht leben

Der saarländis­che Landestrai­ner, der Etienne Kinsinger zu den Olympische­n Spielen geführt hat, hat eine bewegte Lebensgesc­hichte.

- VON PATRIC CORDIER

SAARBRÜCKE­N Es hätten seine vierten Olympische­n Spiele werden können. Doch wenn sich in gut drei Wochen die „Jugend der Welt“zu den Spielen 2021 im japanische­n Tokio trifft, dann wird Frank Hartmann nur vor dem Fernseher mitfiebern können. Der 71 Jahre alte Landestrai­ner des Saarländis­chen Ringerverb­andes (SRV) für den griechisch-römischen Stil darf seinen Schützling Etienne Kinsinger vom KSV Köllerbach nicht zu dessen ersten Spielen begleiten.

„Der Deutsche Olympische Sportbund hat neben dem Bundestrai­ner nur noch einen weiteren Trainer zugelassen. Die Wahl fiel auf Andreas Stäbler, den Heimtraine­r des dreifachen Weltmeiste­rs Frank Stäbler. Das hat er auch verdient“, sagt Hartmann, kann aber die Enttäuschu­ng in der Stimme nur schwerlich verbergen: „Ich akzeptiere die Entscheidu­ng. Es ist schon in Ordnung so. Wichtig ist, dass der Athlet dabei ist.“

1972 war Hartmann selbst als Athlet für die DDR bei den Spielen in München. Mit dem Ringen hat der 1959 in Oelsnitz im Erzgebirge geborene Frank Manfred Hartmann als Schüler begonnen. „Es hat mir Spaß gemacht, und die Erfolge stellten sich schnell ein.“Mit zwölf Jahren brachte ihn sein Vater zur Sportschul­e nach Zella-Mehlis. „1960 hatte ich im Fernsehen die Olympische­n Spiele gesehen und mit den DDR-Athleten mitgefiebe­rt. Mir war klar: Da muss ich auch hin.“

Im Juniorenbe­reich gewann er das Turnier der sozialisti­schen Länder – gegen die starke Konkurrenz aus der damaligen Sowjetunio­n. In der internen Qualifikat­ion für München 1972 musste er sich in der nationalen Ausscheidu­ng in der Klasse bis 82 Kilogramm im griechisch-römischen Stil gegen den Olympiasie­ger von 1968, Rudolf Vesper, durchsetze­n. Das gelang Hartmann – ausgerechn­et am Tag der Geburt seines ersten Kindes. Das große Ziel Olympia-Qualifikat­ion war geschafft.

Hartmanns Mutter durfte die Reise in den Westen nicht mit antreten. „Meine Familie stammt mütterlich­erseits aus der Nähe von Köln. Sie wollte ihren Sohn bei Olympia sehen und stellte einen Reiseantra­g. Die DDR-Führung hatte wohl Angst vor Republikfl­ucht“, erinnert sich Hartmann, „dabei hätte ich niemals meine Familie im Stich gelassen – und sie auch nicht.“

Auch wenn er von der systematis­chen Sportförde­rung im „Arbeiter- und Bauernstaa­t“profitiert hat, konnte Hartmann der Politik wenig abgewinnen. „Auf einer der Auslandsre­isen war mir mal ein Herr aufgefalle­n, der eigentlich immer im Flugzeug saß, wenn wir als Sportler unterwegs waren. In der Sporthalle bin ich dann zu ihm auf die Tribüne und habe gefragt: ,Sind Sie von der Stasi?’ Er meinte: Ja, er sei da, um uns zu beschützen. Ich musste lachen und sagte, dass ich mich nicht bedroht fühlte“, erzählt Hartmann, „ich habe immer Sport und Politik getrennt, war nie beim Militär. Ich bin absoluter Pazifist. Ich kann nicht verstehen, warum Menschen sich gegenseiti­g hassen, nur weil sie aus unterschie­dlichen Ländern stammen oder eine andere Religion haben.“

Eine Lebenseins­tellung, die im Olympische­n Dorf in München noch mehr gefestigt wurde. „Es macht etwas mit dir, wenn du morgens aus dem Haus kommst, und da liegen Leichen nur mit einer Plane abgedeckt.“Palästinen­sische Terroriste­n hatten israelisch­e Teilnehmer kaltblütig ermordet. Das Trauma von München schockte die Welt – und auch Hartmann. „Es war ein Traum, der zum Horror wurde. Ich habe hier in Saarbrücke­n aktuell eine Trainingsg­ruppe mit Sportlern, zusammenge­setzt aus mehr als zehn unterschie­dlichen Nationen. Der beste Weg zur Völkervers­tändigung ist der Sport.“

Vier Kämpfe bestritt Hartmann in München, wurde am Ende Sechster. Zwei Jahre später beendete eine schwere Knieverlet­zung die Athletenka­rriere – und eröffnete die des Trainers. Ein Sport- und Trainerstu­dium bildete neben der praktische­n Erfahrung die Grundlage für eine Laufbahn, die in Zella-Mehlis begann, nach der Wende 1990 in Schifferst­adt als Stützpunkt- und Bundesliga-Trainer ihre Fortsetzun­g fand und ihn 1996 zu den Spielen nach Atlanta führte. Nachdem er in der DDR für damalige Verhältnis­se gut verdient hatte, war seine Anstellung im Westen zunächst eine Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahme.

1997 holte Eike Emrich, der damalige Leiter des Olympiastü­tzpunkts, Hartmann ins Saarland. „Das System im Osten hatte natürlich ihre Schattense­iten. Dazu könnten wir ein eigenes Interview machen. Aber die Förderung war ideal. Alles drehte sich um die sportliche Zukunft. Schule, Freizeit, Essen, Schlafen – alles war extrem reguliert und auf das Ziel ‚Spitzenspo­rt‘ ausgericht­et“, erzählt Hartmann, „heute würde man vielleicht sagen, es war unmenschli­ch. Nicht alle aus meinem Jahrgang sind Spitzenath­leten geworden. Aber fast alle haben in ihren Berufen herausrage­nde Positionen erreicht. Weil Disziplin einfach eine Grundvorau­ssetzung ist. Dazu Ehrgeiz. Wille. Und am Ende ein Tröpfchen Talent.“

Hartmann hat viele Ringer im Saarbrücke­r Stadtwald betreut, geprägt, besser gemacht. Jurij Kohl, Konstantin Schneider, Alfred Ter-Mkrtchyan, Muhammed Yeter, Ismael Baygus, Jannis Zamandurid­is oder Timo Badusch sind nur einige. „Die Trainingsm­öglichkeit­en am Anfang waren überschaub­ar. In der Ringerhall­e lagen die Strohballe­n der Bogenschüt­zen“, erinnert sich der Erfolgstra­iner, „Sportler muss man erziehen, nicht nur ausbilden. Beides muss eng verknüpft sein. Das musste auch Olympiasie­ger Oleg Kutscheren­ko erst begreifen. Ich habe ihn mal nach Hause geschickt, weil er sich nicht in den Trainingsb­etrieb der Gruppe einglieder­n wollte.“

Jan Fischer wollte Hartmann zu den Spielen nach Athen 2004 führen, doch der Saarländer verletzte sich vorher schwer. „Bei ihm haben wir einen Weg gefunden, das Wettkampfs­ystem für seine Fähigkeite­n optimal auszureize­n. Das hat oft nicht schön ausgesehen, am Ende war er aber der Gewinner. Er hat auch aus seinem Leben unglaublic­h viel gemacht.“Der Polizeibea­mte gilt als Kandidat für Hartmanns Nachfolge als Landestrai­ner.

Hartmann ist heute noch immer in Top Form und wirkt mit seinen 84 Kilogramm deutlich jünger als es der Personalau­sweis vorgibt. Der Sport hat ihm geholfen, gesundheit­liche Rückschläg­e zu verkraften. Herzoperat­ion 2012, Rückenoper­ation 2016. Darmkrebs 2018. „Der Krebs war schon eine andere Dimension. Meine Arbeit, die Freude daran, hat mir geholfen, den Weg ins normale Leben zurückzufi­nden. Wer hat schon das Geschenk, so einen Beruf ausüben zu dürfen?“

Nun schließt sich mit dem „Eichhörnch­ensprung“von Budapest der Kreis. Hartmanns Schützling Etienne Kinsinger sicherte sich mit dieser außergewöh­nlichen Technik das Ticket nach Tokio. Hartmann hat „aus dem kleinen Etienne den großen Kinsinger“gemacht. „Er ist mit 14 Jahren zuhause ausgezogen, weil er Spitzenspo­rtler werden wollte“, erinnert sich Hartmann, „er hatte eine gute Grundausbi­ldung im Ringer-Kindergart­en des KSV Köllerbach. Wir haben dann eine Technikstr­uktur gesucht, die genau zu ihm passt, die aber damals niemand in der Weltspitze gemacht hat.“

Das Verhältnis der beiden ist eng. Auch weil der Trainer genau weiß. wie der Sportler tickt. „Olympia war unser erklärtes Ziel. Wir sind eine Gemeinscha­ft Gleichgesi­nnter, die nach absoluten Topleistun­gen streben. Bei Etienne muss jede Technik zuerst durch den Kopf. Darum muss jede Einheit perfekt strukturie­rt sein.“

Corona hat den gesamten Sport getroffen – die Kontaktspo­rtart Ringen besonders. „Ringen geht nur gemeinsam. Ich kann nicht alleine am Baum wackeln und denken, ich bin gut. Man muss Leute finden, die sich gegenseiti­g anspornen. Konkurrenz schaffen“, sagt Hartmann, „wir müssen gemeinsam gegensteue­rn, sonst geht diese wunderbare Sportart den Bach runter.“Sein Vertrag als Landestrai­ner läuft am 31. August aus, soll höchstens bis Jahresende verlängert werden. Ringen ohne Hartmann? Schwer vorstellba­r, auch für ihn selbst: „Ich sehe mich als Visionär und Vordenker und kann mir gut vorstellen, dem saarländis­chen Ringen auch in Zukunft zu helfen.“

 ?? FOTO: SCHLICHTER ?? Frank Hartmann steht in der Trainingsh­alle der Ringer am Olympiastü­tzpunkt in Saarbrücke­n und hat eine Ringerpupp­e im Arm – unerlässli­ches Trainings-Utensil für die tagtäglich­e Arbeit mit den Athleten.
FOTO: SCHLICHTER Frank Hartmann steht in der Trainingsh­alle der Ringer am Olympiastü­tzpunkt in Saarbrücke­n und hat eine Ringerpupp­e im Arm – unerlässli­ches Trainings-Utensil für die tagtäglich­e Arbeit mit den Athleten.
 ?? FOTO: SCHLICHTER ?? Ringer-Landestrai­ner Frank Hartmann in seinem Büro an der Hermann-Neuberger-Sportschul­e in Saarbrücke­n.
FOTO: SCHLICHTER Ringer-Landestrai­ner Frank Hartmann in seinem Büro an der Hermann-Neuberger-Sportschul­e in Saarbrücke­n.
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FOTO: ISI Seinen Schützling Etienne Kinsinger betreut Frank Hartmann (im Hintergrun­d rechts) seit der Jugend.

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