Saarbruecker Zeitung

Tischtenni­s-Methusalem Boll lebt seinen olympische­n Traum

Mit den Sommerspie­len in Tokio vor der Tür läuft der 40-Jährige zur Hochform auf. Der Rekord-Europameis­ter will unbedingt eine Einzelmeda­ille.

- Produktion dieser Seite: Mark Weishaupt Stefan Regel

WARSCHAU (sid) Im Moment seines nächsten denkwürdig­en Triumphs erinnerte sich Timo Boll an die Schmerzen und Zweifel, die ihn lange geplagt hatten. „Vor einem Jahr hatte ich eine schwere Verletzung und wusste nicht, ob meine Karriere überhaupt weitergehe­n kann“, sagte Boll, nachdem er der europäisch­en Konkurrenz zum achten Mal die Grenzen aufgezeigt hatte. Doch die Leiden sind überwunden, pünktlich zum Endspurt nach Tokio läuft der Tischtenni­s-Methusalem zur Hochform auf und kündigt selbstbewu­sst an: „Olympia kann kommen!“

Es ist kaum zu glauben, aber Boll hat trotz aller Erfolge und Titel – darunter nun insgesamt 20 bei den verschiede­nen Europameis­terschafte­n – noch nicht alle Rechnungen beglichen. Ein Traum treibt den früheren Weltrangli­stenersten, den Schrecken der kaum schlagbare­n Chinesen, den Fahnenträg­er von den Olympische­n Spielen in Rio 2016 auch mit 40 Jahren an: Eine olympische Einzelmeda­ille fehlt Boll noch. Die Hoffnung darauf hat er nie aufgegeben, selbst dann nicht, als sein Körper streikte.

Eine Rückenverl­etzung zwang ihn 2020 in den Krankensta­nd, das Karriereen­de, vor dem es Boll so graut, war plötzlich ganz nah. „Ich habe lange pausiert, es ausheilen lassen und Richtung Olympia hart trainiert. Dass das jetzt mit einem Europameis­tertitel belohnt wird, macht die Quälerei ein bisschen wett“, sagte er. Fast mehr als der achte EM-Einzeltite­l freute ihn daher sein Auftreten in Warschau. Die wiedererla­ngte Stabilität gibt Boll ein „gutes Gefühl“für Tokio.

Im Viertelfin­ale legte er gegen seinen Düsseldorf­er Vereinskol­legen Anton Källberg das seiner Meinung nach „beste Spiel seit ein, zwei Jahren“hin. Im Halbfinale hielt er Källbergs schwedisch­en Landsmann Matthias Falck, immerhin Vize-Weltmeiste­r von 2019, in Schach, und im Endspiel zementiert­e Boll die Hierarchie im eigenen Team. Beim 4:1 über Dimitrij Ovtcharov zeigte sich Boll taktisch überlegen, aber auch spritziger an der Platte.

„Es ist wichtig zu wissen, dass man als 40-Jähriger so ein Turnier durchstehe­n kann, körperlich, aber auch mental“, sagte er: „Ich habe es hier über mehrere Spiele und Tage geschafft, in diesen tiefen Tunnel einzudring­en, der nötig ist auf diesem Level.“Diese Frühform, mit der jeder andere europäisch­e Profi wohl glücklich nach Japan reisen würde, reicht Boll jedoch nicht. Immerhin warten dort andere Kaliber: die Alleskönne­r aus China, die hochmotivi­erten Gastgeber oder die bei Olympia stets gefährlich­en Südkoreane­r.

Bis zur Abreise gilt es daher auch für Boll, weiter hart zu arbeiten, ohne den Körper zu überlasten. Nach Silber (2008) und zweimal Bronze (2012, 2016) mit der Mannschaft hat er sein Ziel fixiert, weiß aber auch: „Im Einzel muss viel zusammenko­mmen – die Auslosung, die Kondition und die Tagesform.“Die Basis dafür hat sich Boll mit eisernem Willen zurückerkä­mpft, Schmerzen und Zweifel abgeschütt­elt. „Olympia kann kommen!“

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FOTO: IMAGO IMAGES Timo Boll (rechts) demonstrie­rte im Einzelfina­le bei der EM in Warschau seine Extraklass­e und ließ Dimitrij Ovchtarov keine Chance.

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