Tischtennis-Methusalem Boll lebt seinen olympischen Traum
Mit den Sommerspielen in Tokio vor der Tür läuft der 40-Jährige zur Hochform auf. Der Rekord-Europameister will unbedingt eine Einzelmedaille.
WARSCHAU (sid) Im Moment seines nächsten denkwürdigen Triumphs erinnerte sich Timo Boll an die Schmerzen und Zweifel, die ihn lange geplagt hatten. „Vor einem Jahr hatte ich eine schwere Verletzung und wusste nicht, ob meine Karriere überhaupt weitergehen kann“, sagte Boll, nachdem er der europäischen Konkurrenz zum achten Mal die Grenzen aufgezeigt hatte. Doch die Leiden sind überwunden, pünktlich zum Endspurt nach Tokio läuft der Tischtennis-Methusalem zur Hochform auf und kündigt selbstbewusst an: „Olympia kann kommen!“
Es ist kaum zu glauben, aber Boll hat trotz aller Erfolge und Titel – darunter nun insgesamt 20 bei den verschiedenen Europameisterschaften – noch nicht alle Rechnungen beglichen. Ein Traum treibt den früheren Weltranglistenersten, den Schrecken der kaum schlagbaren Chinesen, den Fahnenträger von den Olympischen Spielen in Rio 2016 auch mit 40 Jahren an: Eine olympische Einzelmedaille fehlt Boll noch. Die Hoffnung darauf hat er nie aufgegeben, selbst dann nicht, als sein Körper streikte.
Eine Rückenverletzung zwang ihn 2020 in den Krankenstand, das Karriereende, vor dem es Boll so graut, war plötzlich ganz nah. „Ich habe lange pausiert, es ausheilen lassen und Richtung Olympia hart trainiert. Dass das jetzt mit einem Europameistertitel belohnt wird, macht die Quälerei ein bisschen wett“, sagte er. Fast mehr als der achte EM-Einzeltitel freute ihn daher sein Auftreten in Warschau. Die wiedererlangte Stabilität gibt Boll ein „gutes Gefühl“für Tokio.
Im Viertelfinale legte er gegen seinen Düsseldorfer Vereinskollegen Anton Källberg das seiner Meinung nach „beste Spiel seit ein, zwei Jahren“hin. Im Halbfinale hielt er Källbergs schwedischen Landsmann Matthias Falck, immerhin Vize-Weltmeister von 2019, in Schach, und im Endspiel zementierte Boll die Hierarchie im eigenen Team. Beim 4:1 über Dimitrij Ovtcharov zeigte sich Boll taktisch überlegen, aber auch spritziger an der Platte.
„Es ist wichtig zu wissen, dass man als 40-Jähriger so ein Turnier durchstehen kann, körperlich, aber auch mental“, sagte er: „Ich habe es hier über mehrere Spiele und Tage geschafft, in diesen tiefen Tunnel einzudringen, der nötig ist auf diesem Level.“Diese Frühform, mit der jeder andere europäische Profi wohl glücklich nach Japan reisen würde, reicht Boll jedoch nicht. Immerhin warten dort andere Kaliber: die Alleskönner aus China, die hochmotivierten Gastgeber oder die bei Olympia stets gefährlichen Südkoreaner.
Bis zur Abreise gilt es daher auch für Boll, weiter hart zu arbeiten, ohne den Körper zu überlasten. Nach Silber (2008) und zweimal Bronze (2012, 2016) mit der Mannschaft hat er sein Ziel fixiert, weiß aber auch: „Im Einzel muss viel zusammenkommen – die Auslosung, die Kondition und die Tagesform.“Die Basis dafür hat sich Boll mit eisernem Willen zurückerkämpft, Schmerzen und Zweifel abgeschüttelt. „Olympia kann kommen!“