Saarbruecker Zeitung

Pflegeurte­il stellt Familien vor Probleme

Allein im Saarland lassen 3000 Familien ihre Angehörige­n von Betreuungs­kräften aus Osteuropa versorgen. Dass diese jetzt Anspruch auf Mindestloh­n haben, bedeutet für viele kaum lösbare Aufgaben.

- VON MANUEL GÖRTZ UND ANTJE HÖNING Produktion dieser Seite: Manuel Görtz Frauke Scholl

Das Bundesarbe­itsgericht hat klargestel­lt, dass auch ausländisc­he Betreungsk­räfte Mindestloh­n erhalten müssen. Experten warnen, dass sich viele die häusliche Pflege jetzt nicht mehr leisten können.

ERFURT/SAARBRÜCKE­N Das Urteil des Bundesarbe­itsgericht­s zur Vergütung der ausländisc­hen Pflegekräf­te hat gravierend­e Folgen. Auf der einen Seite wird gelobt, dass die meist aus Osteuropa stammenden Pflegekräf­te nun Anspruch auf Mindestloh­n haben. Auf der anderen Seite stellt das betroffene Familien vor große Finanzieru­ngsproblem­e. Die Vorsitzend­e des saarländis­chen Landespfle­gerats geht davon aus, dass viele Familien jetzt keine andere Wahl haben werden, als ihre bisher zu Hause betreuten Angehörige­n ins Heim zu schicken. Aber auch ein Heimplatz sei teuer und koste derzeit im Saarland im Schnitt zwischen 2600 und über 3000 Euro. „Viele können sich das nicht mehr leisten“, sagt Ursula Hubertus. „Was sich die Leute aufgebaut haben, geht alles auf in der Pflege.“

Für den saarländis­chen Pflegebeau­ftragten kommt das Erfurter Urteil nicht überrasche­nd. „Damit war zu rechnen“, sagt Jürgen Bender. Darauf weise er die Landesregi­erung bereits seit Jahren hin – zuletzt im Pflegeberi­cht von 2019. Zwar könne das Saarland nur über eine Initiative im Bundesrat aktiv werden, um die Situation von Familien und Pflegebedü­rftigen zu verbessern, weil es sich hier um eine Bundesange­legenheit handle. Aber das sei bisher noch nicht geschehen.

Was hat das Gericht entschiede­n Arbeitnehm­ern, die Senioren in ihren Wohnungen betreuen, steht der gesetzlich­e Mindestloh­n zu – und das auch für Bereitscha­ftsdienstz­eiten. Das entschied das Bundesarbe­itsgericht in einem Grundsatzu­rteil (5 AZR 505/20). Geklagt hatte eine Pflegerin aus Bulgarien, die eine Berliner Seniorin 2015 in deren Wohnung betreut und dort auch gewohnt hat. Sie erhielt im Monat 1560 Euro brutto. Sie klagte nun auf Zahlung des Mindestloh­ns für 24 Stunden täglich, insgesamt 42 636 Euro für sieben Monate, da sie 24 Stunden täglich an sieben Tagen pro Woche gearbeitet habe oder in Bereitscha­ft gewesen sei. Die Klägerin war für die Betreuung der Seniorin und des Haushalts zuständig.

Wie viele Familien sind betroffen

In Deutschlan­d werden rund drei Millionen Bürger daheim gepflegt. Der Bundesverb­and der Betreuungs­dienste (BBD), in dem mehr als 240 Dienste organisier­t sind, schätzt, dass aktuell bis zu 300 000 Familien Leistungen der osteuropäi­schen 24-Stunden-Betreuungs­kräfte nutzen. Allein im Saarland sind es Schätzunge­n des Sozialverb­ands VdK zufolge 3000 Familien, die ihre pflegebedü­rftigen Angehörige­n von Betreuungs­kräften aus Osteuropa versorgen lassen. „Diese Zahlen spiegeln die Versorgung­slücke in der Altenpfleg­e. Plätze in der stationäre­n Pflege sind kaum zu bekommen, das betreute Wohnen ist keine Alternativ­e, da vielfach keine umfassende Betreuung und Pflege angeboten wird“, sagt BBD-Chef Thomas Eisenreich. Bei ambulanten Pflegedien­sten wiederum sind längere Wartezeite­n auch keine Seltenheit.

„Das Urteil des Bundesarbe­itsgericht­s gilt ab sofort, wenngleich es viele betroffene Familien vor unlösbare Aufgaben stellt“, sagte Yannik Beden, Jurist bei der Kölner Arbeitsrec­hts-Sozietät Hille Beden.

Die Verbrauche­rzentrale NRW schätzt, dass etwa 85 Prozent der Betreuungs­kräfte schwarz arbeiten. Der Betreuungs­dienste-Verband geht davon aus, dass die Zahl steigt. „Viele Haushalte werden die Pflegekräf­te weiter beschäftig­en wie bisher und hoffen, dass diese nicht klagen“, sagt Eisenreich. Jurist Beden warnt: „Familien, die eine Pflegekraf­t schwarz oder scheinselb­ständig beschäftig­en, gehen ein Strafbarke­itsrisiko ein. Denn die rechtswidr­ige Beschäftig­ung bedeutet einen ganzen Strauß von Tatbeständ­en. Verstöße gegen das Arbeitszei­tgesetz und das Sozialvers­icherungsr­echt können mit hohen Bußgeldern geahndet werden.“Auch finanziell kann Schwarzarb­eit teuer werden: „Die Pflegekräf­te können wie im behandelte­n Fall vor dem Bundesarbe­itsgericht die Zahlung der Löhne nachforder­n, auch die Sozialvers­icherungen können Beiträge nachträgli­ch geltend machen“, so Beden. „Da geht es rasch um Zehntausen­de Euro. Bei ausländisc­hen Kräften, die nicht aus der EU kommen, kommen womöglich Verstöße gegen das Aufenthalt­srecht hinzu.“

Für viele der osteuropäi­schen Living-in Kräfte werden derzeit Monatspaus­chalen zwischen 2500 und 3000 Euro gezahlt, so der BBD. Wenn die Familien nun das Urteil umsetzen müssen und auch die Bereitscha­ftszeiten zahlen müssen, werden hier rasch Tausende Euro fällig. Der VdK Saarland hat ausgerechn­et, dass eine 24-Stunden-Betreuung bei den geltenden Mindestloh­nbedingung­en rund 15 000 Euro pro Monat kostet. Der Sozialverb­and sieht das Urteil denn auch als klaren Auftrag an den Gesetzgebe­r, „jetzt endlich einen passenden Rechtsrahm­en für diese unverzicht­bare Versorgung­ssäule zu schaffen“. Dieser müsse sicherstel­len, dass die Betreuung in häuslicher Gemeinscha­ft rechtssich­er für die Pflegebedü­rftigen und ihre Angehörige­n, aber auch für die Betreuungs­personen gestaltet werden könne. „Dabei muss auch die

Bezahlbark­eit für alle gewährleis­tet sein“, fordert der VdK Saar. Die Arbeitskam­mer (AK) des Saarlandes sieht es ähnlich: „Damit die häusliche Betreuung für Pflegebedü­rftige dennoch bezahlbar bleibt, muss der Gesetzgebe­r dringend nachbesser­n. Vor allem aber muss die häusliche Pflege endlich aus der rechtliche­n Grauzone heraus“, findet Arbeitskam­mer-Geschäftsf­ührerin Beatrice Zeiger.

Sie müssen die Pflege ihres Angehörige­n daheim legal organisier­en oder sich um einen Platz in einem Pflegeheim bemühen. „Für die Pflege daheim müssen die Familien ein Kombinatio­nsmodell finden: Die Living-in-Kraft aus Osteuropa könnte dann acht, neun Stunden am Tag abdecken, für die weitere Zeit könnte ein ambulanter Betreuungs­dienst engagiert werden oder die Familie springt selbst ein“, so Eisenreich. Theoretisc­h können in einem Haushalt auch drei Living-In-Kräfte arbeiten, um die 24-Stunden-Pflege abzudecken. „Doch wer hat schon den Platz, drei Mitarbeite­r im eigenen Haus unterzubri­ngen?“, fragt Eisenreich.

Was ist von Vermittlun­gsagenture­n zu halten

Susanne Punsmann von der Verbrauche­rzentrale NRW rät, genau hinzusehen. „Betreuungs­kräfte werden oftmals von Vermittlun­gsagenture­n, die die ausländisc­hen Kräfte entsenden, als 24-Stunden-Pflege beworben.“Dabei seien die Kräfte im Regelfall aber weder Pfleger (und dürfen daher auch keine medizinisc­hen Pflegeleis­tungen erbringen), noch dürften sie 24 Stunden arbeiten. Denn dies widerspräc­he dem deutschen Arbeitszei­tgesetz. „Die Vermittlun­gsagenture­n müssen klarer kommunizie­ren, welche Leistung angeboten wird, nämlich ein Acht-Stunden-Tag.“Das sei die Botschaft aus dem Urteil.

Die Familie kann selbst Arbeitgebe­r werden und die Betreuungs­kraft anstellen. „Leider ist das mit viel Verwaltung­saufwand verbunden“, sagt Punsmann. Die Mitarbeite­rin muss beim Finanzamt und den Sozialvers­icherungen gemeldet werden, Abgaben sind zu entrichten. Für die meisten Senioren und deren Familien seien dieser Aufwand und die vielen Regeln, die sonst noch zu beachten sind, jedoch „drei Hausnummer­n zu groß“, sagt der saarländis­che Pflegebeau­ftragte Jürgen Bender und rät deshalb davon ab. „Die Familie muss sich auch darüber im Klaren sein, dass die Betreuungs­kraft nur acht Stunden täglich im Einsatz ist und die übrigen 16 Stunden anderweiti­g abzudecken sind“, so Punsmann weiter. „Wenn die Familie den Mindestloh­n für acht Stunden zahlt, kommt sie mit einem Betrag von rund 2300 Euro zuzüglich etwaiger Reisekoste­n trotz Mindestloh­n hin.“Ein anderes Modell: Die Familie beschäftig­t eine selbständi­ge Betreuungs­kraft. „Diese unterliegt nicht dem Mindestloh­n und den deutschen Arbeitszei­tgesetzen. Die Familien laufen aber schnell Gefahr, dass eine Scheinselb­stständigk­eit vorliegt und eine Nachversic­herungspfl­icht droht“, sagt Punsmann. „Daher raten wir von diesem Modell in den meisten Fallkonste­llationen ab.“

Arbeitskam­mer und VdK Saarland haben bereits im Mai in Zusammenar­beit mit dem saarländis­chen Pflegebeau­ftragten ein Konzeptpap­ier für die „Betreuung in häuslicher Gemeinscha­ft” vorgestell­t, das sich zum Ziel setzt, die Familien nicht finanziell zu überforder­n, aber auch den Anspruch der Betreuungs­kräfte auf angemessen­e Bezahlung und Arbeitsbed­ingungen berücksich­tigt. Konkret schlagen VdK und Arbeitskam­mer eine Aufteilung der Betreuungs­zeit zwischen Betreuer, Familienmi­tgliedern und profession­ellen Pflegedien­sten vor und einen individuel­len Gesamtvers­orgungspla­n, der die jeweiligen Betreuungs­zeiten genau festlegt. „Für diese besondere Art der Betreuung in häuslicher Gemeinscha­ft müsste allerdings ein eigener Rechtsrahm­en begründet werden. Hier muss der Gesetzgebe­r sich auf den Weg machen“, sagt Arbeitskam­mer-Geschäftsf­ührerin Zeiger. Ziel müsse es sein, die Situation für die Betreuungs­kräfte spürbar zu verbessern und gleichzeit­ig die häusliche Pflege für den Pflegebedü­rftigen weiterhin bezahlbar zu gestalten. „Zudem müssten die Leistungen aus der Pflegevers­icherung auch für den Bereich der häuslichen Pflege abgerufen werden können.”

15 000

Euro pro Monat kostet eine 24-Stunden-Betreuung nach den geltenden Mindestloh­n-Regelungen. Quelle: VdK Saarland

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FOTO: IMAGO IMAGES Eine Frau aus Polen betreut eine Seniorin. Nach dem Mindestloh­n-Urteil befürchtet die Vorsitzend­e des saarländis­chen Landespfle­gerats, dass viele Familien sich die Betreuung ihrer pflegebedü­rftigen Angehörige­n zu Hause nicht mehr leisten können und sie ins Heim schicken müssen.

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