Wenn Sterling trifft, dann bebt Wembley
Englands Stürmer will sein Team im Viertelfinale gegen die Ukraine ins Halbfinal-Heimspiel schießen.
LONDON (dpa) Wie viel ihm das Wembley-Stadion bedeutet, das kann man auf dem Unterarm von Raheem Sterling sehen. Dort ist ein Junge tätowiert. Es ist ein kleiner Sterling, er trägt ein Trikot mit der Nummer zehn und einen Ball unter dem Arm– und er schaut auf den Fußball-Tempel mit dem gewaltigen Stahlbogen. Sterling ist als Teenager unzählige Male an der Arena im Nordwesten Londons vorbeigelaufen, er wuchs nicht weit entfernt von ihr auf. Er träumte schon damals davon, einmal in diesem Stadion für England ein Tor zu schießen.
Bei dieser EM ist ihm das nun schon dreimal gelungen. Den Gruppensieg in der Vorrunde sicherte der 26-Jährige den Three Lions mit seinen Toren gegen Kroatien (1:0) und Tschechien (1:0) praktisch im Alleingang. Auch beim 2:0-Erfolg im Achtelfinale gegen Deutschland war der Flügelstürmer von Manchester City zuletzt erfolgreich. Wenn Sterling bei der EM trifft, dann bebt Wembley. „Ich habe immer gesagt, wenn ich bei einem großen Turnier in Wembley spiele, werde ich treffen – in meinem Garten“, sagte er nach dem Auftaktsieg gegen die Kroaten.
In seinem Garten fühlt sich Sterling offenbar wohl. Dabei hätten Fans und Medien den Angreifer nicht mal zwingend in der Startelf von Trainer Gareth Southgate erwartet. England hat Offensivstars wie Phil Foden, Jadon Sancho, Jack Grealish oder Marcus Rashford. Also, mal ehrlich, dachten sich nicht wenige, warum sollte dann Sterling von Anfang an spielen? In Manchester hatte er zuvor eine schwierige Saison erlebt. Erst verlor er das Vertrauen von Trainer Pep Guardiola, dann in den wichtigen Spielen seinen Stammplatz an Foden. Immerhin im Champions-League-Finale durfte Sterling wieder starten: City verlor mit 0:1 gegen den FC Chelsea.
Southgate hielt trotzdem immer an ihm fest. „Er ist ein Kämpfer“, sagte der 50-Jährige nach dem Einzug ins EM-Viertelfinale. „Er hat eine unglaubliche Widerstandskraft und Ehrgeiz. In den letzten Jahren hat er diesen echten Torhunger entwickelt.“Jetzt ist Sterling der erst zweite Spieler in der Geschichte
Englands, der bei einem Turnier die ersten drei Tore für die Three Lions erzielen konnte. Zuvor war dies nur Gary Lineker bei der WM 1986 gelungen. Aber anders als Lineker vor 35 Jahren in Mexiko darf Sterling bei dieser EM in seinem Wohnzimmer spielen. „Diese Tore in Wembley zu erzielen, wird etwas Besonderes für ihn sein“, sagte Southgate.
Ob Sterling es bei einem großen Turnier auch auswärts kann, wird sich an diesem Samstag (21 Uhr) zeigen. Dann dürfen die Engländer zum ersten Mal nicht in ihrer geliebten Heimspielstätte antreten, das Viertelfinale gegen die Ukraine findet stattdessen im Olympiastadion in Rom statt. Beim Erreichen des Halbfinals würde Sterling mit seiner Mannschaft dann in seinen Garten zurückkehren können, auch das Finale wird am 11. Juli in Wembley ausgetragen.
Er habe als Kind davon geträumt, „eines Tages der König von Wembley zu sein“, sagte Sterling vor einigen Tagen. Charakterlich verändert hat er sich seit seinen jungen Jahren offenbar nicht. „Seine Karriere ist außergewöhnlich. Er ist immer noch der Gleiche, der er mit 16 war“, erzählte Englands Torwart Jordan Pickford am Donnerstag. Für sein soziales Engagement wurde Sterling zuletzt schon mit dem Ritterorden ausgezeichnet. Sollte er die Engländer in seinem Stadion zum EM-Titel schießen, würden sie ihm vielleicht auch eine Krone aufsetzen.
Selten war die Chance für England so groß wie jetzt, zumindest das Heim-Finale am 11. Juli zu erreichen. In der Runde der letzten Vier würde Dänemark oder Tschechien warten. Doch die Ukrainer mit Trainer Andrej Schewtschenko wollen diesen Traum zerstören – mit großer Leidenschaft und der Unterstützung des ganzen Landes. Die Euphorie ist riesig, es winkt seit dem Viertelfinaleinzug bei der WM 2006 der größte Erfolg der ukrainischen Fußball-Geschichte. „Über die Fähigkeiten der Engländer muss ich ja nichts erzählen“, sagte England-Profi Jarmolenko ( West Ham): „Aber gleichzeitig haben wir jetzt so einen emotionalen Schub bekommen, dass es für sie nicht leicht wird.“