In Großbritannien naht der „Tag der Freiheit“
Am 19. Juli sollen für die Engländer weitgehend alle Beschränkungen fallen – auch wenn die Infektionszahlen wegen der Delta-Variante dramatisch hoch sind.
LONDON Eine Pressekonferenz von Premierminister Boris Johnson war anberaumt und für gewöhnlich ist das auf der Insel kein gutes Zeichen. Durch die Pandemie hindurch verkündeten der Regierungschef sowie Minister, Berater und Wissenschaftler von dieser Plattform aus dem britischen Volk vor allem schlechte Nachrichten. Es ging um die Zahl der täglich Verstorbenen, um harte Lockdowns, neue Beschränkungen, Kehrtwenden. Der düstere Alltag während der Corona-Krise, aufgezeigt in Folien und Statistiken.
Doch am gestrigen Montag sollte die Ansprache ein Moment der Freude sein. Johnson frohlockte mit dem endgültigen „Tag der Freiheit“. Am 19. Juli sollen für die Engländer weitgehend alle Beschränkungen fallen. Sie könnten wieder voll besetzte Theater und Konzerthallen besuchen, Nächte im Club durchtanzen und an der Pubtheke ohne Abstand mit anderen Trinkwütigen den Feierabend begießen. Die Distanzregeln würden fallen und auch die Maske zu tragen, etwa im Supermarkt oder in öffentlichen Verkehrsmitteln, soll zur „persönlichen Entscheidung“werden. Für Schottland, Nordirland und Wales sind die dortigen Regionalregierungen zuständig.
Eigentlich war der „freedom day“bereits für den 21. Juni geplant, doch dann verbreitete sich die zuerst in Indien entdeckte Delta-Variante so rasant im Königreich, dass Johnson – selbstredend auf einer Pressekonferenz – zurückrudern musste. Zwar grassiert das Coronavirus weiterhin, täglich stecken sich im Schnitt rund 25 000 Menschen an. Damit ist die Infektionsrate innerhalb der letzten zwei Monate um das Zehnfache gestiegen. Mit gut 300 Patienten werden aber jeden Tag zehn Mal weniger
Menschen wegen Covid ins Krankenhaus eingeliefert, als dies noch im Februar der Fall war. Auch die Zahl der Toten stieg zuletzt nur leicht an. Aber reicht das aus, um der Bevölkerung Hoffnung zu machen, indem man die Pandemie de facto als erledigt erklärt?
Zahlreiche Wissenschaftler fordern eine Verzögerung. „Es wirkt merkwürdig, all diese Risiken mit Infektionen einzugehen, wenn wir so nah dran sind, dass die Impfungen die Aufgabe übernehmen, uns zu schützen“, sagte der Psychologieprofessor Stephen Reicher von der Universität St. Andrews, der im Beratungsgremium SAGE der Regierung sitzt. Wie andere Experten kritisierte er Massenveranstaltungen wie die Spiele der Fußball-EM als „leichtsinnig“. Die beunruhigenden Entwicklungen scheinen ihnen Recht zu geben. So meldeten die schottischen Gesundheitsbehörden letzte Woche rund 2000 neue Fälle im Zusammenhang mit dem Turnier. Etwa zwei Drittel der Infektionen seien bei Fans aufgetreten, die ihre Nationalmannschaft zur „Battle of Britain“gegen England am 18. Juni nach London begleitet hatten.
Solche Nachrichten halten die britische Regierung jedoch nicht davon ab, zu den EM-Halbfinals und dem Finale diese Woche 60 000 Fans ohne nennenswerte Abstandsregeln ins Wembley-Stadion zu lassen. Ihr Argument: Die Impfkampagne läuft mit Erfolg. Fast zwei Drittel aller erwachsenen Briten sind bereits vollständig geimpft und rund 86 Prozent haben mindestens eine Dosis erhalten.
Der Öffnungskurs wird befeuert vom neuen Gesundheitsminister Sajid Javid, der es nach Amtsantritt als seine „absolute Priorität“bezeichnete, die noch geltenden Covid-Restriktionen so schnell wie möglich zu lockern. Er gehört dem liberalen Lager innerhalb der regierenden Tory-Partei an. Die Hinterbänkler dieses Flügels scharren seit Monaten ungeduldig mit den Füßen.
Und so handelt es sich beim jetzigen Schritt um eine Abkehr vom von Johnson monatelang vorgetragenen Mantra, man folge „Daten, nicht Terminen“. Immerhin, das Motto für den Weg aus dem Lockdown lautete: „Vorsichtig, aber unwiderruflich“. Nun soll alles schnell gehen. „Wieder einmal übertrumpft Politik die Wissenschaft“, kritisierte der britische Guardian. Susan Michie, Direktorin des Zentrums für Verhaltensveränderungen am University College London, meinte, eine Welle an Übertragungen zu erlauben, komme dem Bau von „Variantenfabriken“gleich. Stephen Powis, Chef des nationalen Gesundheitsdiensts NHS, appellierte dagegen an den „gesunden Menschenverstand“. Es bestehe nicht für jeden die Notwendigkeit, weiterhin Gesichtsmasken zu tragen, aber es wäre für gefährdete und ältere Menschen „angemessen“, die Praxis beizubehalten.