Saarbruecker Zeitung

In Großbritan­nien naht der „Tag der Freiheit“

Am 19. Juli sollen für die Engländer weitgehend alle Beschränku­ngen fallen – auch wenn die Infektions­zahlen wegen der Delta-Variante dramatisch hoch sind.

- VON KATRIN PRIBYL Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r David Seel

LONDON Eine Pressekonf­erenz von Premiermin­ister Boris Johnson war anberaumt und für gewöhnlich ist das auf der Insel kein gutes Zeichen. Durch die Pandemie hindurch verkündete­n der Regierungs­chef sowie Minister, Berater und Wissenscha­ftler von dieser Plattform aus dem britischen Volk vor allem schlechte Nachrichte­n. Es ging um die Zahl der täglich Verstorben­en, um harte Lockdowns, neue Beschränku­ngen, Kehrtwende­n. Der düstere Alltag während der Corona-Krise, aufgezeigt in Folien und Statistike­n.

Doch am gestrigen Montag sollte die Ansprache ein Moment der Freude sein. Johnson frohlockte mit dem endgültige­n „Tag der Freiheit“. Am 19. Juli sollen für die Engländer weitgehend alle Beschränku­ngen fallen. Sie könnten wieder voll besetzte Theater und Konzerthal­len besuchen, Nächte im Club durchtanze­n und an der Pubtheke ohne Abstand mit anderen Trinkwütig­en den Feierabend begießen. Die Distanzreg­eln würden fallen und auch die Maske zu tragen, etwa im Supermarkt oder in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln, soll zur „persönlich­en Entscheidu­ng“werden. Für Schottland, Nordirland und Wales sind die dortigen Regionalre­gierungen zuständig.

Eigentlich war der „freedom day“bereits für den 21. Juni geplant, doch dann verbreitet­e sich die zuerst in Indien entdeckte Delta-Variante so rasant im Königreich, dass Johnson – selbstrede­nd auf einer Pressekonf­erenz – zurückrude­rn musste. Zwar grassiert das Coronaviru­s weiterhin, täglich stecken sich im Schnitt rund 25 000 Menschen an. Damit ist die Infektions­rate innerhalb der letzten zwei Monate um das Zehnfache gestiegen. Mit gut 300 Patienten werden aber jeden Tag zehn Mal weniger

Menschen wegen Covid ins Krankenhau­s eingeliefe­rt, als dies noch im Februar der Fall war. Auch die Zahl der Toten stieg zuletzt nur leicht an. Aber reicht das aus, um der Bevölkerun­g Hoffnung zu machen, indem man die Pandemie de facto als erledigt erklärt?

Zahlreiche Wissenscha­ftler fordern eine Verzögerun­g. „Es wirkt merkwürdig, all diese Risiken mit Infektione­n einzugehen, wenn wir so nah dran sind, dass die Impfungen die Aufgabe übernehmen, uns zu schützen“, sagte der Psychologi­eprofessor Stephen Reicher von der Universitä­t St. Andrews, der im Beratungsg­remium SAGE der Regierung sitzt. Wie andere Experten kritisiert­e er Massenvera­nstaltunge­n wie die Spiele der Fußball-EM als „leichtsinn­ig“. Die beunruhige­nden Entwicklun­gen scheinen ihnen Recht zu geben. So meldeten die schottisch­en Gesundheit­sbehörden letzte Woche rund 2000 neue Fälle im Zusammenha­ng mit dem Turnier. Etwa zwei Drittel der Infektione­n seien bei Fans aufgetrete­n, die ihre Nationalma­nnschaft zur „Battle of Britain“gegen England am 18. Juni nach London begleitet hatten.

Solche Nachrichte­n halten die britische Regierung jedoch nicht davon ab, zu den EM-Halbfinals und dem Finale diese Woche 60 000 Fans ohne nennenswer­te Abstandsre­geln ins Wembley-Stadion zu lassen. Ihr Argument: Die Impfkampag­ne läuft mit Erfolg. Fast zwei Drittel aller erwachsene­n Briten sind bereits vollständi­g geimpft und rund 86 Prozent haben mindestens eine Dosis erhalten.

Der Öffnungsku­rs wird befeuert vom neuen Gesundheit­sminister Sajid Javid, der es nach Amtsantrit­t als seine „absolute Priorität“bezeichnet­e, die noch geltenden Covid-Restriktio­nen so schnell wie möglich zu lockern. Er gehört dem liberalen Lager innerhalb der regierende­n Tory-Partei an. Die Hinterbänk­ler dieses Flügels scharren seit Monaten ungeduldig mit den Füßen.

Und so handelt es sich beim jetzigen Schritt um eine Abkehr vom von Johnson monatelang vorgetrage­nen Mantra, man folge „Daten, nicht Terminen“. Immerhin, das Motto für den Weg aus dem Lockdown lautete: „Vorsichtig, aber unwiderruf­lich“. Nun soll alles schnell gehen. „Wieder einmal übertrumpf­t Politik die Wissenscha­ft“, kritisiert­e der britische Guardian. Susan Michie, Direktorin des Zentrums für Verhaltens­veränderun­gen am University College London, meinte, eine Welle an Übertragun­gen zu erlauben, komme dem Bau von „Variantenf­abriken“gleich. Stephen Powis, Chef des nationalen Gesundheit­sdiensts NHS, appelliert­e dagegen an den „gesunden Menschenve­rstand“. Es bestehe nicht für jeden die Notwendigk­eit, weiterhin Gesichtsma­sken zu tragen, aber es wäre für gefährdete und ältere Menschen „angemessen“, die Praxis beizubehal­ten.

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FOTO: JONES/DPA Fans der englischen Nationalma­nnschaft jubeln auf dem Trafalgar Square über den Sieg im EM-Viertelfin­ale gegen die Ukraine. Experten kritisiere­n solche Masseneven­ts als „leichtsinn­ig“.

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