Saarbruecker Zeitung

Die Taliban sind in Afghanista­n auf dem Vormarsch

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KABUL (dpa) Kurz vor dem offizielle­n Abschluss des Abzugs der internatio­nalen Truppen aus Afghanista­n kontrollie­ren die radikal-islamistis­chen Taliban wieder mehr als die Hälfte der Bezirke des Landes. Das geht aus einer Recherche der Deutschen Presse-Agentur hervor. Demnach halten die Islamisten rund 210 der etwa 400 Bezirkszen­tren des Landes. Unter voller Kontrolle der Regierung stehen rund 110 Bezirke, weitere rund 80 sind umstritten.

Die aktuelle Entwicklun­g in Afghanista­n stellt ein großes Fragezeich­en hinter den gefährlich­en Einsatz von 160 000 Bundeswehr­soldaten, von denen 59 im Kampf um eine bessere Zukunft am Hindukusch und in der Welt ihr Leben ließen. Die deutschen Einheiten sind gerade einmal drei Wochen aus dem Norden des Landes abgezogen, da nehmen die radikalisl­amischen Taliban die Regionen nahezu handstreic­hartig ein. Inzwischen sind mehr als die Hälfte aller Provinzen des Landes in der Hand der Taliban.

Jeder hätte größtes Verständni­s für den Abzug der internatio­nalen Militärall­ianz 20 Jahre nach den Terrorangr­iffen vom 11. September 2001 gehabt, wenn als Vorbereitu­ng der Druck auf beide Seiten bei den Verhandlun­gen zwischen Regierung und Taliban in Doha so weit erhöht worden wäre, dass dort ein faires, verlässlic­hes und belastbare­s Friedensab­kommen als Ergebnis gestanden hätte. Mit einer „Mission erfüllt“wären die Militärs in die Maschinen gestiegen. Aber 20 Jahre Einsatz allein am Termin des gewünschte­n Abzuges und nicht am Erreichen wenigstens von Minimalzie­len enden zu lassen, führt nun zum Stempel „Mission gescheiter­t“.

Damit liegt die erste Lehre aus dem Afghanista­n-Einsatz bereits auf dem Tisch: Immer wieder neue Teilziele definieren, diese nach Kräften umsetzen und stabilisie­ren, um nicht am Ende alles zu verspielen. Hinzu kommt eine kritische Bestandsau­fnahme der Interventi­ons-Logik. 1994 stand die westliche Welt unter dem Schock des Völkermord­es in Ruanda mit bis zu einer Million Todesopfer­n. Man fühlte sich schuldig, keine Nothilfe geleistet zu haben. Als vier Jahre später Ähnliches im zerfallend­en Jugoslawie­n drohte, war die Bereitscha­ft zum Eingreifen deutlich gewachsen. Und als dann 2001 die Terrorangr­iffe mit entführten Flugzeugen die Welt auf den Kopf stellten und Al-Qaida unter dem Schutz der Taliban in Afghanista­n als Urheber enttarnt wurde, war es nur noch ein kleiner Schritt zur Interventi­on.

2003 bröckelte die Allianz im Irakkrieg, die weiteren Entwicklun­gen belegten, dass mangelhaft durchdacht­e Interventi­onen nicht Teil einer Lösung, sondern Taktgeber eines noch viel größeren Problems werden. So trug das mit Moskau fehlerhaft abgestimmt­e Vorgehen in Libyen zum ungehinder­ten Wüten des Bürgerkrie­ges mit Hunderttau­senden von Opfern in Syrien bei. Am Ende folgte auch das Ende des Afghanista­n-Einsatzes einer von Anfang an fehlenden Konsequenz. Die USA wussten um den fatalen Einfluss Pakistans auf das Nachbarlan­d, fassten den Partner aber mit Samthandsc­huhen an, obwohl sie zu Recht vermuteten, dass Osama bin Laden, der Drahtziehe­r des 11. September, nicht in Afghanista­n, sondern in Pakistan Unterschlu­pf gefunden hatte.

Es muss nun also eine Bestandsau­fnahme geben, die weit über den Afghanista­n-Einsatz hinausreic­ht. Und sie muss in einer Enquete-Kommission des Bundestage­s so bald wie möglich beginnen, damit wichtige Lehren auch für den laufenden Mali-Einsatz schnell auf den Tisch kommen.

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