Stolpert Spahn in ein Regelungs-Loch?
Verlängert der Bundestag die Corona-Ausnahmesituation nicht, laufen Eingriffsrechte und Leistungen nach der Wahl aus.
BERLIN Die Inzidenzen waren längst im freien Fall, als die Koalition im Juni gleichwohl die Feststellung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“erneut verlängerte. Augen zu und durch, lautete die Devise, weil viele Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung daran geknüpft sind. Doch nun dämmert immer mehr Politikern, dass sie sich damit in eine Sackgasse manövriert haben: Wenige verspüren Lust, das Thema auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes noch einmal aufzurufen, weil die Menschen Corona-Einschränkungen satt haben. Doch wenn sie nichts tun, läuft die gesetzliche Grundlage für zahlreiche Ermächtigungen vier Tage nach der Wahl automatisch aus – und Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) stolpert in ein Regelungs-Loch.
Welcher Koalitionspolitiker auch immer in diesen Tagen auf die „epidemische Lage“angesprochen wird – ein Augenrollen ist zumeist die erste Antwort. Die Menschen genießen ihre aktuellen Freiheiten, jeder Wahlkämpfer ahnt: Wer sich nun positioniert als Befürworter andauernder harter Einschränkungen, kann am 26. September nur verlieren. Doch der Zeitplan zwingt die Fraktionen, sich mit dem Thema bald zu beschäftigen: Am 30. September läuft die Grundlage automatisch aus. Am 7. September tritt der Bundestag planmäßig zur allerletzten Sitzung dieser Wahlperiode zusammen, und am 25. August beraten die Ministerpräsidenten über die aktuellen Gefahren durch die aggressive Delta-Variante des Virus.
Obwohl das gut sechs Wochen Zeit zu lassen scheint, drückt die FDP aufs Tempo, weil sie die Bundesregierung zu einem anderen Ausweg aus dem Problem bringen will. „Die epidemische Lage von nationaler Tragweite ist nicht mehr das geeignete Mittel in der Pandemiebekämpfung“, erklärt Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann. Er mahnt: „Wir müssen dringend von diesem Ausnahmezustand in den rechtlichen Normalzustand zurückkehren.“Dafür müssten jedoch Regelungen identifiziert werden, die Planungs- und Rechtssicherheit brauchen und deshalb verlängert gehörten – wie etwa die pandemiebedingten Unterstützungen bei der Bundesausbildungsförderung oder bei der Familienpflegezeit. „Genau das muss die Bundesregierung vorbereiten, und so einen geordneten Ausstieg aus der epidemischen Lage von nationaler Tragweite ermöglichen“, fordert der FDP-Politiker. Die September-Sitzung des Bundestags könne dann ohne Probleme dafür genutzt werden, entsprechende Gesetzentwürfe zu beraten.
Dass die Verlängerung der epidemischen Lage nicht auf der Tagesordnung für den 7. September stehe, sei „kein Zufall, sondern eine bewusste politische Entscheidung“, erläutert Innen-Staatssekretär Günter Krings, Chef der CDU-NRW-Landesgruppe im Bundestag. Zwar müsse die Entwicklung der Ansteckungen und der Krankenhausbehandlungen von Covid-Patienten genau im Blick behalten werden. „Aber Handlungsbedarf besteht erst, wenn diese wirklich stark anwachsen“, meint Krings. Der Bundestag sei jedenfalls „lückenlos handlungsfähig“.
Damit bringt Krings eine Option in den Blick, die auch schon 1998 beim Kosovo-Krieg zum Tragen kam. Obwohl schon ein neuer Bundestag gewählt war, hatte der seine Konstituierung erst noch vor sich, sodass nach der Wahl erst noch einmal der alte zusammentreten musste, um den Weg freizumachen. Manche liebäugeln damit: Bis zur Wahl die Füße still zu halten, falls die Corona-Situation am 7. September noch einigermaßen erträglich ist, und dann direkt nach der Wahl die epidemische Lage zu verlängern, um mehr Zeit für Gesetzesnovellen zu haben.