Juli 2016 – Als der IS-Terror endgültig Deutschland erreichte
Vor fünf Jahren verüben IS-Anhänger erstmals Terroranschläge auf deutschem Boden – und es stellt sich die Frage, wie viele Angreifer noch frei herumlaufen.
WÜRZBURG/ANSBACH (dpa) „Ich habe gestern Abend geweint.“Würzburgs Oberbürgermeister Christian Schuchardt wird emotional, als er sich nach der tödlichen Messerattacke eines Flüchtlings an die Bürger seiner Stadt wendet. „Die Bilder, der Täterhintergrund, der mögliche Ruf Allahu Akbar, Gott ist am Größten, wecken Parallelen“, schreibt der CDU-Politiker am 26. Juni in einem offenen Brief. Einen Tag zuvor hat ein junger Mann aus Somalia in Würzburg auf mehrere Menschen eingestochen. Drei Frauen sterben, fünf Menschen erleiden lebensgefährliche Verletzungen.
Bei Schuchardt und vielen Würzburgern ruft die Bluttat in der Innenstadt sofort Erinnerungen an den 18. Juli 2016 wach. Ein 17 Jahre alter Flüchtling geht damals in einem Regionalzug in Würzburg mit Axt und Messer auf eine Urlauberfamilie aus Hongkong los. Später greift er eine Passantin an – fünf Menschen werden verletzt.
Es ist der erste Anschlag eines Anhängers der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) auf deutschem Boden. Der Angreifer mit Wurzeln in Afghanistan wird von der Polizei erschossen. Nur sechs Tage später, am 24. Juli, kommt es keine 100 Kilometer weiter in Ansbach zum ersten islamistischen Selbstmordattentat in Deutschland. Der Terror der Dschihadisten – wenngleich kein völlig neues Phänomen – ist endgültig in der Bundesrepublik angekommen. Die politische Debatte, wegen der damals hohen Flüchtlingszahlen aus dem Irak und Syrien ohnehin heftig, wird neu befeuert.
Die Politik hatte bereits kurz zuvor die Gesetzeslage verschärft. Schon im Juni 2016 wurde mit den Stimmen der damaligen großen Koalition ein Anti-Terror-Paket verabschiedet. Beim Kauf von Prepaid-Telefonkarten ist seitdem ein Identitätsnachweis notwendig. Bei Terrorverdacht können Daten von Jugendlichen schon ab 14 Jahren gespeichert werden.
Dem Bundesamt für Verfassungsschutz wurden weitere Befugnisse erteilt, insbesondere beim Austausch von Daten mit Partnerdiensten in EU und Nato. Die Bundespolizei darf – wie zuvor schon die Länderpolizeien – verdeckte Ermittler einsetzen. 2017 kam das Fluggastdatengesetz dazu: Fluggesellschaften müssen die Daten ihrer Passagiere an eine Stelle beim Bundeskriminalamt melden.
Ob man aus den Anschlägen gelernt hat, ob die Sicherheitsbehörden Schlüsse gezogen haben, ihre Taktik geändert, ihren Fokus justiert – darüber schweigen sie in der Öffentlichkeit. Zu heikel scheint das Thema, zu groß die Gefahr, dass durch jede Äußerung die potenzielle Gefahr von Nachahmern weiter geschürt werden könnte.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz listet seit Februar 2016 insgesamt zehn islamistisch motivierte Anschläge in Deutschland auf. Das „islamistische Personenpotenzial“, das die Verfassungsschützer im Visier haben, ist seitdem kontinuierlich gestiegen, von 2019 auf 2020 noch einmal um 2,5 Prozent auf 28 715 Menschen. 1070 seien aus islamistischer Motivation heraus nach Syrien oder in den Irak gereist – ein Drittel davon sei inzwischen wieder in Deutschland.
Bei der jüngsten Gewalttat in Würzburg besteht zumindest der Verdacht auf einen islamistischen Hintergrund. Die drei Frauen, die der 24-jährige Somalier tötete, waren ihm offensichtlich unbekannt. Zeugen wollen dabei zweimal den Ausruf „Allahu Akbar“gehört haben. Die Polizei hält auch eine psychische Erkrankung für nicht ausgeschlossen; ein Gutachten steht aus. Der Mann sitzt in Untersuchungshaft. Fünf Jahre vorher war die Motivlage klarer. Der Zug-Attentäter hatte in einem Video angekündigt, sich an „Ungläubigen“für das Leid zu rächen, das sie seinen Glaubensbrüdern antäten. Die Terrormiliz IS reklamierte den Anschlag für sich.
In Ansbach war es ein suizidgefährdeter Flüchtling, der in seinem Rucksack eine Bombe zündete. Der 27-Jährige starb, 15 Menschen wurden bei dem Anschlag verletzt. Der IS behauptete, der Syrer sei einer seiner Krieger gewesen.