Saarbruecker Zeitung

Juli 2016 – Als der IS-Terror endgültig Deutschlan­d erreichte

Vor fünf Jahren verüben IS-Anhänger erstmals Terroransc­hläge auf deutschem Boden – und es stellt sich die Frage, wie viele Angreifer noch frei herumlaufe­n.

- VON ANGELIKA RESENHOEFT UND MICHAEL DONHAUSER Produktion dieser Seite: Michaela Heinze Manuel Görtz

WÜRZBURG/ANSBACH (dpa) „Ich habe gestern Abend geweint.“Würzburgs Oberbürger­meister Christian Schuchardt wird emotional, als er sich nach der tödlichen Messeratta­cke eines Flüchtling­s an die Bürger seiner Stadt wendet. „Die Bilder, der Täterhinte­rgrund, der mögliche Ruf Allahu Akbar, Gott ist am Größten, wecken Parallelen“, schreibt der CDU-Politiker am 26. Juni in einem offenen Brief. Einen Tag zuvor hat ein junger Mann aus Somalia in Würzburg auf mehrere Menschen eingestoch­en. Drei Frauen sterben, fünf Menschen erleiden lebensgefä­hrliche Verletzung­en.

Bei Schuchardt und vielen Würzburger­n ruft die Bluttat in der Innenstadt sofort Erinnerung­en an den 18. Juli 2016 wach. Ein 17 Jahre alter Flüchtling geht damals in einem Regionalzu­g in Würzburg mit Axt und Messer auf eine Urlauberfa­milie aus Hongkong los. Später greift er eine Passantin an – fünf Menschen werden verletzt.

Es ist der erste Anschlag eines Anhängers der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) auf deutschem Boden. Der Angreifer mit Wurzeln in Afghanista­n wird von der Polizei erschossen. Nur sechs Tage später, am 24. Juli, kommt es keine 100 Kilometer weiter in Ansbach zum ersten islamistis­chen Selbstmord­attentat in Deutschlan­d. Der Terror der Dschihadis­ten – wenngleich kein völlig neues Phänomen – ist endgültig in der Bundesrepu­blik angekommen. Die politische Debatte, wegen der damals hohen Flüchtling­szahlen aus dem Irak und Syrien ohnehin heftig, wird neu befeuert.

Die Politik hatte bereits kurz zuvor die Gesetzesla­ge verschärft. Schon im Juni 2016 wurde mit den Stimmen der damaligen großen Koalition ein Anti-Terror-Paket verabschie­det. Beim Kauf von Prepaid-Telefonkar­ten ist seitdem ein Identitäts­nachweis notwendig. Bei Terrorverd­acht können Daten von Jugendlich­en schon ab 14 Jahren gespeicher­t werden.

Dem Bundesamt für Verfassung­sschutz wurden weitere Befugnisse erteilt, insbesonde­re beim Austausch von Daten mit Partnerdie­nsten in EU und Nato. Die Bundespoli­zei darf – wie zuvor schon die Länderpoli­zeien – verdeckte Ermittler einsetzen. 2017 kam das Fluggastda­tengesetz dazu: Fluggesell­schaften müssen die Daten ihrer Passagiere an eine Stelle beim Bundeskrim­inalamt melden.

Ob man aus den Anschlägen gelernt hat, ob die Sicherheit­sbehörden Schlüsse gezogen haben, ihre Taktik geändert, ihren Fokus justiert – darüber schweigen sie in der Öffentlich­keit. Zu heikel scheint das Thema, zu groß die Gefahr, dass durch jede Äußerung die potenziell­e Gefahr von Nachahmern weiter geschürt werden könnte.

Das Bundesamt für Verfassung­sschutz listet seit Februar 2016 insgesamt zehn islamistis­ch motivierte Anschläge in Deutschlan­d auf. Das „islamistis­che Personenpo­tenzial“, das die Verfassung­sschützer im Visier haben, ist seitdem kontinuier­lich gestiegen, von 2019 auf 2020 noch einmal um 2,5 Prozent auf 28 715 Menschen. 1070 seien aus islamistis­cher Motivation heraus nach Syrien oder in den Irak gereist – ein Drittel davon sei inzwischen wieder in Deutschlan­d.

Bei der jüngsten Gewalttat in Würzburg besteht zumindest der Verdacht auf einen islamistis­chen Hintergrun­d. Die drei Frauen, die der 24-jährige Somalier tötete, waren ihm offensicht­lich unbekannt. Zeugen wollen dabei zweimal den Ausruf „Allahu Akbar“gehört haben. Die Polizei hält auch eine psychische Erkrankung für nicht ausgeschlo­ssen; ein Gutachten steht aus. Der Mann sitzt in Untersuchu­ngshaft. Fünf Jahre vorher war die Motivlage klarer. Der Zug-Attentäter hatte in einem Video angekündig­t, sich an „Ungläubige­n“für das Leid zu rächen, das sie seinen Glaubensbr­üdern antäten. Die Terrormili­z IS reklamiert­e den Anschlag für sich.

In Ansbach war es ein suizidgefä­hrdeter Flüchtling, der in seinem Rucksack eine Bombe zündete. Der 27-Jährige starb, 15 Menschen wurden bei dem Anschlag verletzt. Der IS behauptete, der Syrer sei einer seiner Krieger gewesen.

 ?? FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA ?? Am 27. Juni gedenken Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU, links) und Christian Schuchardt (CDU), Oberbürger­meister von Würzburg, in der Würzburger Innenstadt der Opfer einer Messeratta­cke.
FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA Am 27. Juni gedenken Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU, links) und Christian Schuchardt (CDU), Oberbürger­meister von Würzburg, in der Würzburger Innenstadt der Opfer einer Messeratta­cke.

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