Der Einfluss der Kriege mit Deutschland
Gastprofessor aus Straßburg vergleicht gesellschaftliche Entwicklungen beiderseits des Rheins.
SAARBRÜCKEN Emmanuel Droit ist Professor für zeitgenössische Geschichte und internationale Beziehungen an der Politikhochschule Sciences Po in Straßburg. Zurzeit hat er eine Gastprofessur am neu gegründeten Cluster für Europaforschung (CEUS) der Saar-Uni inne. Droit beschäftigt sich insbesondere mit der Geschichte Europas und der Erinnerungskultur der Frühen Neuzeit, etwa zu Krieg und Kolonialismus.
Herr Droit, ein großer Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich besteht bei der Familienpolitik. Auch wenn es seit ein paar Jahren auch in Deutschland immer mehr Kita-Plätze und berufstätige Mütter gibt, ist es noch nicht so selbstverständlich wie bei den französischen Nachbarn. Warum setzte Frankreich so früh dieses Familienmodell um?
DROITWenn man die Familienpolitik in beiden Ländern vergleicht, ist es auf jeden Fall interessant, diese in einem geschichtlichen Kontext zu betrachten und nachzuspüren, woher diese Unterschiede stammen. Dass sich die französische Familienpolitik vorzeitig in diese Richtung entwickelte, hat aber auch mit Deutschland zu tun. Als Frankreich 1871 den Krieg verlor, wurde als eine der Erklärungen dafür die demografische Überlegenheit auf deutscher Seite angeführt. Das verstärkte sich nach dem Ersten Weltkrieg, bei dem so viele Franzosen an der Front ums Leben kamen. Um seinen demografischen Rückstand aufzuholen, hat Frankreich bereits zu dieser Zeit eine entsprechende Familienpolitik eingeführt. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs verzeichnet man aber eine Konvergenz der Entwicklungen. Das hat sich in Deutschland seit dem Beginn der 2000er Jahre verstärkt – zum Beispiel durch vermehrte Angebote der frühkindlichen Betreuung.
Im wirtschaftlichen Bereich sprechen Sie von einer verlangsamten Industrialisierung in Frankreichs. Warum steht Deutschland im Gegensatz zu Frankreich heute als starke Industrienation da?
DROIT Seit den 1970er Jahren hat sich in Frankreich viel stärker als in Deutschland eine Deindustrialisierung fortgesetzt. Das waren politische und wirtschaftliche Entscheidungen. Deutsche Konzerne sind in Deutschland geblieben und haben sich mehr nach dem Export ausgerichtet. Dadurch konnten sie sich am internationalen und globalisierten Markt behaupten. In Frankreich wurde in vielen Branchen versucht, durch Outsourcen ins Ausland die Produktivitätskosten zu senken.
Sie kommen selbst aus der Nähe von Nancy und sind sozusagen ein Kind der Großregion. Denken Sie, dass sich in der Grenzregion tatsächlich eine gemeinsame Identität entwickelt, oder leben die Menschen eher nebeneinander, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen?
DROIT In Gegenden wie dem Département Moselle oder dem Elsass lebt man im Alltag grenzüberschreitend, sowohl was die Arbeitnehmer angeht als auch die Einkaufund Freizeitgewohnheiten. Diese Ko-Präsenz ist selbstverständlich. Auch wenn sie nicht unbedingt eine Verschmelzung bewirkt, ergeben sich dennoch gegenseitige Einflüsse. Die Franzosen, die in Forbach oder Saargemünd an der Grenze zu Deutschland leben, sind anders als in der Bretagne oder im Süden.