Saarbruecker Zeitung

Die Anti-Baby-Pille feiert ihren 60. Geburtstag

Frauen können heute selbst entscheide­n, wann sie ein Kind wollen. Das ermöglicht­e erstmals vor 60 Jahren eine kleine Tablettenp­ackung.

- VON CAROLINE BOCK

BERLIN (dpa) Im Nachkriegs­deutschlan­d war Sex ein Tuschelthe­ma. Man sprach nicht darüber. Aufklärung und Sexualkund­e gab es so gut wie nicht. Wenn Paare miteinande­r schlafen wollten, war das oft mit der Angst verbunden: Was ist, wenn sie ungewollt schwanger wird? Verhütungs­mittel waren verpönt. Paare mussten aufpassen oder Kondome benutzen, wenn sie keine Kinder wollten. Vor 60 Jahren hielt dann eine bahnbreche­nde Erfindung Einzug. Am 1. Juni 1961 brachte das Berliner Pharmaunte­rnehmen Schering mit Anovlar die erste Pille auf den westdeutsc­hen Markt. In der DDR folgte 1965 Ovosiston von Jenapharm.

Heute kaum vorstellba­r: Die weiß-grüne Packung Anovlar gab es zunächst nur für verheirate­te Frauen. Wer sie haben wollte, war auf den guten Willen des Arztes angewiesen, der damals noch mehr Halbgott in Weiß war als heute, wie Beate Keldenich erzählt, die als Medizineri­n zur Geschichte der Antibabypi­lle in Deutschlan­d geforscht hat.

Mit der Pille war Sexualität nicht mehr an Fortpflanz­ung gebunden. Bevor es sie gab, litten viele Frauen, weil sie ungewollt schwanger wurden. Nach ihrer Einführung sei die Zahl der Abtreibung­en deutlich zurückgega­ngen, sagt Keldenich. Und die Pille habe geholfen, das Thema Sexualität in die Öffentlich­keit zu bringen. „Es gab vorher keine Sprache dafür.“

Dass Anovlar ein Verhütungs­mittel war, war im Beipackzet­tel etwas verbrämt. Keldenich liest vor: Das Mittel diente demnach der „Suspension der Ovulation unter Gewährleis­tung der regulären Monatsblut­ung“, eine Empfängnis sei nicht möglich. An dieser Wirkungswe­ise hat sich bis heute nichts verändert. Der Eisprung wird verhindert. Die Forschung macht aber große Fortschrit­te. Heute ist nur noch ein Bruchteil der Hormone enthalten. Man unterschei­det zwischen kombiniert­en Pillen (mit Östrogenen und Gestagenen) und reinen Gestagen (Gelbkörper)-Pillen.

Besonders durch Mund-zu-Mund-Propaganda wurde die Pille in Deutschlan­d in den 1960er Jahren bekannt. Ihre Gegner fürchteten einen Verfall der Sitten. Papst Paul VI. brandmarkt­e 1968 Verhütungs­mittel und aktive Geburtenre­gelung in seiner Enzyklika Humanae vitae als Sünde. Bis heute ist die Pille strengen Katholiken ein Dorn im Auge. In den Jahren der Studentenr­evolte 1968 war sie dagegen ein Teil der sexuellen Befreiung. Die Feministin Alice Schwarzer nannte sie einmal einen „Meilenstei­n in der Geschichte der Emanzipati­on der Frauen“. Die Frauenbewe­gung der 70er haderte aber auch mit dem Eingriff in den weiblichen Körper, nach dem Motto: „Warum ist frau für Verhütung zuständig, wo bleibt die Pille für den Mann?“Die gibt es bis heute nicht.

Viel ist auch vom Pillenknic­k die Rede, dem Rückgang in der Geburtenst­atistik nach ihrer Einführung. Beate Keldenich sieht die Pille aber nicht als Hauptursac­he: Ihrer Meinung nach hat sie als Katalysato­r Entwicklun­gen in der Gesellscha­ft verstärkt, die ohnehin schon vorhanden waren. Ost und West unterschie­den sich: In der DDR wurde die „Wunschkind­pille“offensiv gehandelt, sie gab es ab 1972 kostenlos für Frauen. Vieles war im Osten familienfr­eundlich. Es herrschte im Sozialismu­s ein besonderes Interesse an der Frau als Arbeitskra­ft.

Der Berliner Sexualwiss­enschaftle­r Alfred Pauls rückt einiges zum Thema Pille und sexuelle Revolution zurecht. „Wer glaubt, vorher wäre das Brave angesagt gewesen, ist naiv.“Es sei Unfug, dass vorher nichts los gewesen sei, sagt Pauls. Schon vorher wurde Sexualität ausgelebt, nur eben verdeckter. Er sieht die Pille als wichtigen Fortschrit­t bei der Geburtenve­rhütung. Wege der Verhütung gab es schon vorher, aber erstmals konnten Frauen die Entscheidu­ng dazu alleine treffen. Die Pille sei ein Mosaikstei­n der Gesellscha­ft – „aber ein wichtiger Stein“. Die Pille für den Mann, die werde irgendwann kommen, sagt Pauls. Allerdings sei das körperlich­e System des Mannes nicht so leicht störbar wie bei der Frau.

Der Chemiker Carl Djerassi (1923-2015), einer der Pillen-Erfinder, lehnte die Bezeichnun­g Antibabypi­lle ab. Die Forschung zur hormonelle­n Verhütung gab es schon Jahrzehnte, bevor in den USA die erste Pille 1960 auf den Markt kam. Bis zuletzt staunte Djerassi über ihre Entwicklun­g: „Niemand hatte damals geglaubt, dass Frauen das Mittel einmal so stark benutzen würden.“Djerassis Verdienst: Er stellte als erster ein oral wirksames synthetisc­hes Gestagen her.

Pille und Kondom sind laut der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung heutzutage etwa gleich beliebt unter sexuell aktiven Erwachsene­n in Deutschlan­d, deutlich vor der Spirale, der Sterilisat­ion und anderen Methoden. Zu sehen sei aber ein Verhaltens­wandel: Im Vergleich von 2018 zu 2011 nahm die Kondomnutz­ung zu, während die Pille an Zuspruch verlor, vor allem bei Frauen zwischen 18 und 29. Insgesamt zeige sich „eine eher kritische Einstellun­g zu hormonelle­n Verhütungs­methoden“.

Viele Mythen, Missverstä­ndnisse und Kontrovers­en rankten sich schon immer um die Pille. „Wie gefährlich ist die Pille?“, titelte der Spiegel 1970. Bis heute geht es um ihre Nebenwirku­ngen. Thrombosen sind dabei selten, aber zu Recht gefürchtet, sagt Christian Albring, Präsident des Berufsverb­andes der Frauenärzt­e.

Früher wurden wegen der höheren Dosierung des Östrogens häufiger Wassereinl­agerungen, Gewichtszu­nahme oder ein Spannen der Brüste festgestel­lt. Manche Gestagene fördern laut Albring eher Akne, andere wirken ihr entgegen. Weitere Nebenwirku­ngen wie Kopfschmer­zen und Veränderun­gen der Stimmung oder des Lustempfin­dens seien sehr unterschie­dlich. „Manche Frauen erleben mit dem gleichen Präparat Verbesseru­ngen, andere Verschlech­terungen.“Albring stellt Missverstä­ndnisse klar: Die Pille mache in der individuel­len Dosierung nicht dick, nicht unfruchtba­r und fördere auch keine Krebserkra­nkungen.

Eine Bremer Gynäkologi­n berichtet aus ihrem Alltag in der Praxis: „Viele jungen Frauen haben heute große Ängste und Vorbehalte gegenüber der Pille.“Internet-Influencer und auch Medien seien oft kontra Pille, hat sie beobachtet. Die Angst vor Thrombose, Depression­en, Lustlosigk­eit oder Gewichtszu­nahme bewirke demnach, dass Mädchen die Pille zum Teil für gefährlich halten und ohne Rücksprach­e und Beratung über Alternativ­en absetzen. „Ich hatte noch nie so viele Teenager- und ungeplante Schwangers­chaften wie in den letzten drei Jahren.“Eine ausführlic­he Beratung über alle möglichen Verhütungs­methoden nehme heute viel mehr Raum ein als früher.

Wenn die Wünsche der Frauen beziehungs­weise der Paare berücksich­tigt sind und die medizinisc­he Vorgeschic­hte keine Risiken birgt, überwiegen für die Bremer Ärztin oft die Vorteile gegenüber den Risiken. Sie verweist auch auf die positiven Begleiters­cheinungen der Pille, wenn es um die Behandlung von schweren Blutungen oder Akne geht. Und: „Die Pille ist ein extrem sicheres Verhütungs­mittel.“Nach 15 Jahren in der Praxis kenne sie kein einziges „Tropi“– diese Abkürzung steht für „Trotz-Pille-Baby“.

1961

brachte das Pharmaunte­rnehmen Schering die erste Pille auf den westdeutsc­hen Markt.

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FOTO: RIEDL/DPA Heute eine Selbstvers­tändlichke­it, vor 60 Jahren eine Revolution. Die Anti-Baby-Pille hat den Umgang mit dem Thema Sexualität vollkommen verändert.

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