Das Virus bleibt
Die Würfel sind gefallen: Forscher gehen davon aus, dass Sars- CoV-2 nicht mehr ausgerottet werden kann. Es hat sich in der Menschheit eingenistet. Jetzt braucht es eine globale Mutations-Überwachung.
Das Coronavirus Sars-CoV-2 ist bereits Teil unserer Geschichte geworden – und immer klarer wird, dass es mit seinen Varianten nicht mehr verschwinden wird. Zu Beginn der Pandemie gab es die leise Hoffnung, dass eine immunisierte Bevölkerung keine Angriffsfläche mehr bietet. Inzwischen gilt das Gegenteil als wahrscheinliche Realität. Mehrere neue Varianten zeugen davon. Bei hohem evolutionärem Druck, etwa durch Impfstoffe, findet der Erreger immunologische Ausflüchte, den sogenannten Immun-Escape (Fluchtmutation). Die Erreger erproben dabei Wege, das Immunsystem zu täuschen und Immunreaktionen zu umgehen. So entstehen permanent Mutationen, die sich zu neuen Virusvarianten formieren. Aktuell beschäftigt die in Indien entstandene Delta-Variante die Welt. Die Zeitschrift Foreign Affairs nannte SarsCoV-2 deshalb kürzlich „The Forever Virus” (Das ewige Virus).
Eine wichtige Aufgabe für Wissenschaft und Behörden wird es künftig sein, Sars-CoV-2 auch bei niederschwelliger Inzidenz langfristig regelmäßig zu überwachen. Je früher ein Ausbruch neuer Varianten erkannt würde, desto wahrscheinlicher ist es, deren Verbreitung schnell eindämmen zu können.
Eine globale Überwachung findet bereits bei Influenzaviren statt, etwa durch das Global Influenza Surveillance and Response System (GISRS) der Weltgesundheitsorganisation ( WHO). Das Science Media Center Germany (SMC) hat einige Experten zur Zukunft von Sars-CoV-2 und Menschheit befragt.
Welche Strukturen sind nötig, um künftig eine effiziente globale Überwachung von SARS-CoV-2 und dessen Varianten aufzubauen Sind die Arbeitsgruppen zum Influenzavirus ein Vorbild
Professor Isabella Eckerle, Leiterin der Forschungsgruppe emerging viruses in der Abteilung Infektionskrankheiten an der Universität Genf (Schweiz): „Da es sich um ein globales Problem handelt, braucht diese Art der Überwachung eine internationale Struktur – und zwar eine, die wirtschaftlich schwache Länder genauso miterfasst wie Industrienationen. Strukturen und Netzwerke, die bereits zur Influenza-Surveillance bestehen, können hier tatsächlich als Ausgangspunkt genutzt werden, müssen aber deutlich erweitert werden. Besonders jene Regionen, in denen der Zugang zu Impfstoffen limitiert ist und die noch lange auf eine Durchimpfung der Bevölkerung warten müssen, und in denen gleichzeitig unkontrollierte Viruszirkulation stattfindet, stellen Risikogebiete für neue Varianten dar. Genau diese Länder jedoch haben in der Regel die schwächste Laborkapazität. Welche Faktoren bei der Zirkulation von Sars-CoV-2 eine Rolle spielen, ist noch sehr viel weniger gut verstanden als bei der Influenza, sodass man viel breiter und umfassender überwachen muss. Ein weiterer Punkt ist ebenso der Hergang in Tierpopulationen, der überwacht werden muss, wie es bereits mehrfach etwa auf Nerzfarmen geschehen ist.“
Professor Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig: „Das internationale Influenza-Netzwerk ist ein gutes Beispiel, sofern es die molekulare Überwachung betrifft. Analog zu dort wäre in Deutschland das nationale Konsiliarlabor zuständig, also das Institut unter der Leitung von Professor Christian Drosten. Anders als bei Influenza stehen aber inzwischen molekulare Daten auch aus sehr vielen Laboren in Deutschland zur Verfügung. (...) Diese Daten sollten öffentlich und in Echtzeit der Forschung zugänglich gemacht werden, denn immerhin sind sie mit öffentlichen Mitteln bezahlt und produziert worden, und zwar primär zum Zweck der Diagnostik und öffentlichen Gesundheit und nicht im Rahmen einzeln beantragter Forschungsprojekte.“
Professor Richard Neher, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien am Biozentrum der Universität Basel (Schweiz): „Das Influenza-Überwachungssystem kann tatsächlich ein Vorbild sein. (...) Die Viren werden in WHO-Zentren laufend charakterisiert. Alle sechs Monate wird eine Empfehlung für die Zusammensetzung des nächsten Grippe-Impfstoffs gemacht. Die Überwachung der Erbgutsequenz und neu auftretenden Mutationen von Sars-CoV-2 funktioniert mittlerweile in Europa sehr gut, aber bei der Charakterisierung der Varianten und der Risikobewertung wäre mehr internationale Koordination sinnvoll. Dies ist vor allem für die Aktualisierung von Impfstoffen wichtig, die vermutlich für Covid-19 notwendig sein werden.“
Professor Annelies Wilder-Smith, Spezialistin für neu auftretende Infektionskrankheiten an der London School of Hygiene and Tropical Medicine (Großbritannien): „Man muss erst einmal verstehen, ob neue Sars-CoV-2-Varianten tatsächlich zu einer deutlich reduzierten Wirksamkeit des Impfstoffs führen, wie es bei der Influenza der Fall ist. Zwar deuten alle bisherigen Erkenntnisse auf eine verringerte Wirksamkeit gegen besorgniserregenden Varianten hin, aber die Wirksamkeit ist erfreulicherweise nur mäßig verringert, nicht in demselben Ausmaß wie bei Influenza-Impfstoffen. Die Verringerung variiert von Variante zu Variante und von Impfstoffplattform zu Impfstoffplattform, aber im Durchschnitt ist die Wirksamkeit lediglich um 10 bis 30 Prozent reduziert. (...) Da die Senkung der Sterblichkeitsrate das wichtigste Ziel der öffentlichen Gesundheit in der derzeitigen Phase der Pandemie ist, sollte der Schwerpunkt weiterhin darauf liegen, einen größeren Anteil der Bevölkerung rasch zu impfen, anstatt Auffrischungsdosen bereitzustellen. Dies ist eine wichtige Botschaft angesichts der Tatsache, dass die Welt nicht über genügend Impfstoffe verfügt, um in diesem Stadium auch nur jedem eine erste Dosis zu verabreichen.“
Welche Parameter sollten vorrangig überwacht werden – nationales Infektionsgeschehen, Genomveränderungen, Immunstatus der Bevölkerung
Eckerle: „Eine Überwachung mittels Vollgenomsequenzierung kann den besten Überblick über zirkulierende Varianten geben, allerdings ist die Auswahl der Proben hier sehr wichtig und nicht trivial. Sie muss geografisch weite Regionen erfassen und repräsentative Proben beinhalten. (...) Neben der technisch aufwendigen und teuren Vollgenomsequenzierung, die gerade in ressourcenarmen problematisch ist, können mutationsspezifische PCRs auf Marker-Mutationen einen Überblick verschaffen. Eine weitere wichtige Frage wird ebenso sein, wie viel noch auf Sars-CoV-2 überhaupt getestet wird, wenn die Pandemie vorüber ist, sodass milde Infektionen unerkannt bleiben werden.“
Krause: „Wir müssen definitiv die eindimensionale Bewertung der Pandemie überwinden, die sich auf die nahezu alleinige Betrachtung der Fallzahlen beschränkt. Die im Jahr 2020 ad hoc angelegten großen Antikörper-Studien müssen nun in eine Art repräsentative Antikörper-Kohorte überführt werden. Daran kann man dann die Veränderungen des Immunstatus in der Bevölkerung überwachen.“
Neher: „Inzidenzen werden ein wichtiger Parameter bleiben. Sie sind ein guter Indikator für das Infektionsgeschehen. Wir sollten den Fokus aber ebenso weiterhin auf die Genomsequenzierungen legen. (...) Wichtig ist auch die serologische Charakterisierung der Varianten und in der Bevölkerung. Hierzu brauchen wir eine Art Biodatenbank, in der Seren von Impflingen liegen und auf die man zurückgreifen kann, wenn neue Virusvarianten auftauchen und man bestimmen will, ob diese vom Immunsystem noch erkannt werden.“
Wilder-Smith: „Für Auffrischungsdosen gibt es vier verschiedene Szenarien: Erstens: keine Notwendigkeit für kurzfristige Auffrischungsdosen innerhalb von ein bis drei Jahren nach Ausbruch der Pandemie aufgrund der Tatsache, dass die meisten, wenn nicht alle Covid-19-Impfstoffe eine starke T-Zell-Antwort zusätzlich zur humoralen Antwort induzieren. Zweitens: eine Auffrischungsimpfung mit dem ursprünglichen Stamm, um die Antikörpertiter zu erweitern und zu erhöhen, da es Hinweise darauf gibt, dass höhere Antikörpertiter einen besseren Schutz auch gegen bedenkliche Varianten bieten. Drittens: eine Auffrischungsdosis mit einem variantenangepassten Impfstoff. Viertens: eine multivalente Auffrischungsimpfung, die die angestammte Antigenzusammensetzung plus bedenkliche Varianten enthält. Die beste Strategie, um die Entwicklung von bedenklichen Varianten zu reduzieren, ist ganz klar die schnelle Immunisierung eines großen Teils der Bevölkerung. Das hat das Beispiel Israel gezeigt. Eine hohe bevölkerungsbezogene Durchimpfungsrate mit zwei Dosen innerhalb weniger Monate führte zu einem deutlichen Rückgang der Neuerkrankungen und Todesfälle, selbst als die Gesellschaft die Abriegelung und andere nicht-pharmazeutische Maßnahmen lockerte.“
Welche Bedeutung werden regionale Hotspots spielen, wenn das Infektionsgeschehen insgesamt weiter zurückgeht
Eckerle: „Regionale Hotspots werden dort eine Rolle spielen, wo geringe Impfraten vorliegen und das Virus weiter in einer teilimmunen Bevölkerung zirkuliert. Dies kann ganze Länder umfassen, die benachteiligten Zugang zu Impfstoff haben, oder bestimmte Bevölkerungsgruppen, die eine Impfung aus diversen Gründen ablehnen.“
Krause: „Lokale Geschehen werden an Bedeutung wieder zunehmen und damit auch die Rolle der Gesundheitsämter. Deren Personalunterstützung von außen wird aber gerade abgebaut und kann auch nicht nachhaltig in dem Maße wie im vergangenen Jahr aufrechterhalten werden. Somit kommt der Digitalisierung der Arbeitsprozesse weiterhin eine sehr große Bedeutung zu.“
Neher: „Ich glaube, regionale Hotspots werden keine große Rolle spielen. Mit zunehmender Impfrate wird das Infektionsgeschehen an Dynamik weiter verlieren und eher nach dem Muster der Grippe oder Erkältungswellen ablaufen. Es wird also voraussichtlich nicht mehr zu einer Karnevalsfeier kommen, bei der die Zahl der Ansteckungen durch die Decke geht. Regionale Unterschiede bleiben aber bei der Nachverfolgung neuer Varianten wichtig. (...) Wichtig ist eine hohe Impfrate, sowohl hierzulande als auch global.“
Wilder-Smith: „Regionale Hotspots werden für das Auftreten von Varianten von der Durchimpfungsrate abhängig sein. Hotspots für Varianten werden dort erwartet, wo die Inzidenz hoch und die Durchimpfungsrate noch niedrig ist.“
ww