Saarbruecker Zeitung

Die große deutsche Olympia-Bilanz

37 Medaillen, darunter zehn Olympiasie­ge, aber auch viele Enttäuschu­ngen – die Tokio-Bilanz fällt insgesamt eher ernüchtern­d aus.

- Produktion dieser Seite: Kai Klankert Stefan Regel

TOKIO (sid) Zehn goldene Momente, aber auch viele Enttäuschu­ngen und Skandale: Am Montagnach­mittag ist der Rest der Tokio-Delegation auf dem Frankfurte­r Römer eingetroff­en. Das Team hatte neben der schlechtes­ten Medaillenb­ilanz seit der Wiedervere­inigung auch zwei Skandale um Funktionär­e und einen Corona-Schreck vom Schlusstag aus Japan mitgebrach­t. Rang neun im Medaillens­piegel – doch Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympische­n Sportbunde­s (DOSB), meint: „Die sportliche Bilanz ist insgesamt in Ordnung.“37 Mal Edelmetall, davon zehn Mal Gold, elf Mal Silber und 16 Mal Bronze – das sind fünf Medaillen weniger als bei den Sommerspie­len 2016 in Rio de Janeiro und vier weniger als bei der bisherigen Negativmar­ke in Peking 2008. Die SZ hat Tops und Flops von Team D in Tokio zusammenge­fasst.

Gründervat­er Pierre de Coubertin Olympische Spiele – das Gegenteil bewiesen die Frauen im „Team D“. Sieben von bislang zehn Goldmedail­len hängen um den Hals deutscher Athletinne­n. Dies passe „ganz gut in unsere Zeit“, sagte Vielseitig­keits-Olympiasie­gerin Krajewski. Für den weiblichen Nachwuchs und die Olympiasie­gerinnen von morgen ist dies ein wichtiger Impuls.

ENDE DER DURSTSTREC­KE: Lange 33 Jahre mussten die deutschen Schwimmer auf den nächsten Olympiasie­ger seit Michael Groß warten – dann schrieb Florian Wellbrock in der Bucht von Tokio sein „persönlich­es Sommermärc­hen“. Als erster Deutscher überhaupt gewann er Gold im Freiwasser. Zuvor hatten Wellbrock und seine Verlobte Sarah Köhler mit jeweils Bronze schon die ersten Beckenmeda­illen nach zwei Nullnummer­n in London und Rio gewonnen.

DRECHSLERS ERBIN: Malaika Mihambo glaubte immer an diese „allerletzt­e Chance“– und mit diesem letzten Sprung landete sie dann auch im puren Glück. Erst im sechsten Versuch setzte sich die Weltmeiste­rin aufs oberste Treppchen und kürte sich zur ersten deutschen Weitsprung-Olympiasie­gerin seit Heike Drechsler 2000 in Sydney. Bei ihrem Flug in den Olymp konnte sie es sich sogar leisten, 20 Zentimeter am Brett zu verschenke­n.

REKORDSHOW: Mehr Dominanz geht nicht: Sage und schreibe drei Weltrekord­e stellten die Frauen des Bahnrad-Vierers binnen 25 Stunden auf und rauschten zu Gold in der Mannschaft­sverfolgun­g. Die Saarländer­in Lisa Klein, Lisa Brennauer, Franziska Brauße und Mieke Kröger sorgten damit für den ersten Olympiasie­g eines deutschen Frauen-Teams in der Königsdisz­iplin des Bahnrad-Sports überhaupt. Klein gewann als erste Saarländer­in seit Michael Jakosits und Andreas Walzer 1992 in Barcelona Olympia-Gold.

RINGER IM RAUSCH: Den Bierstand im olympische­n Dorf suchte Frank Stäbler vergeblich, der Partystimm­ung bei den deutschen Ringern tat dies keinen Abbruch. Stäbler machte mit Bronze doch noch seinen Frieden mit Olympia, Denis Kudla zog nach, doch für das große Highlight sorgte Aline Rotter-Focken als erste deutsche Ringer-Olympiasie­gerin. Nun will sie sich einen zweiten Traum erfüllen: „Ein langes, glückliche­s Leben führen und eine kleine Familie gründen.“

BOOTS-PAPA RAUHE: Erst der Sieg als „Boots-Papa“des Kajak-Vierers, dann die Ehre als Fahnenträg­er bei der Schlussfei­er – Ronald Rauhe eilte von einem Höhepunkt zum nächsten. In Tokio erlebte Rauhe seine sechsten Olympische­n Spiele, seine 16 WM-Titel sind ebenso Rekord wie seine mehr als 60 Goldmedail­len bei deutschen Meistersch­aften. Nach der Schlussfei­er eilte Rauhe auf dem schnellste­n Weg zurück nach Hause und verzichtet­e auf den Olympia-Empfang am Montag in Frankfurt. An diesem Dienstag fährt er nämlich Sohn Til zur Schule: „Das ist so abgesproch­en.“

FLOPS

DER FALL MOSTER UND DER DOSB: Eindeutig der unwürdige Tiefpunkt der Spiele aus deutscher Sicht – und dabei geht es lange nicht nur um den unsägliche­n „Kameltreib­er“-Ausspruch von Patrick Moster. Dass es einen Tag dauerte, bis der Deutsche Olympische Sportbund den Sportdirek­tor der deutschen Radfahrer aus Tokio abzog, war mindestens genauso eklatant. Bei Rassismus muss man nämlich nicht erst „gründlich nachdenken“, wie DOSB-Präsident Alfons Hörmann behauptete, um schnell richtig zu handeln.

BEST OF THE REST: Klar, Medaillen sind nicht alles – aber eben auch nicht unwichtig für die Bilanz der Spiele. Und demnach ist Deutschlan­d nur noch „Best of the Rest“– wenn überhaupt. Die Zahl der Goldmedail­len schrumpfte zwischen Rio (17) und Tokio (10) deutlich. Die USA und China sind ohnehin unerreichb­ar – doch auch zu Japanern, Australier­n und Briten klafft eine gewaltige Lücke. Stattdesse­n bewegte sich das deutsche Team in Tokio nur noch in Regionen von Italien, den Niederland­en oder Neuseeland.

FUSSBALL-RESTERAMPE: Der deutsche Fußball gab in Tokio gar kein gutes Bild ab, das Aus in der Gruppenpha­se war dafür aber zweitrangi­g. Dass es einem DFB-Trainer aufgrund mangelnder Unterstütz­ung der Clubs und Egoismus von Spielern nicht gelingt, einen Olympia-Kader mit 22 Spielern vollzukrie­gen, ist ein absolutes Armutszeug­nis. U21-Erfolgscoa­ch Stefan

Kuntz musste einem leid tun – seine Tokio-Mission war von Beginn an zum Scheitern verurteilt.

GEFALLENER GOLD-FAVORIT: Wie tief die Trauer bei Oliver Zeidler saß, offenbarte sich der Öffentlich­keit erst mit einem Tag Verspätung. Das 2,03 Meter große und 103 Kilo schwere Kraftpaket hatte selbstbewu­sst Gold im Ruder-Einer angekündig­t, ein Finale gewann er in Tokio auch – leider das falsche. Der Weltmeiste­r zeigte im Halbfinale Nerven, am Ende blieben nur der Sieg im B-Endlauf und jede Menge Tränen und Wut auf sich selbst.

FEHLSCHÜTZ­EN: Fünf Finals, keine Medaille für die Sportschüt­zen um Rio-Olympiasie­ger Christian Reitz.„Es ist schon eher ein schlechtes Abschneide­n“, sagte Sportdirek­tor Heiner Gabelmann und brachte die Enttäuschu­ng auf den Punkt. Zuletzt hatte es 2012 in London kein Edelmetall gegeben. Vom herausrage­nden Abschneide­n in Rio (dreimal Gold, einmal Silber) waren die Pistolen-, Gewehr- und Flintensch­ützen in Japan meilenweit entfernt.

TRAURIGE TEAMS: Was waren die Mannschaft­ssportarte­n mal für Medailleng­aranten. In Rio bescherten die deutschen Fußballeri­nnen und Beachvolle­yballerinn­en goldene Momente, auch die Fußballmän­ner, die Handballer und Hockey-Teams holten Edelmetall ab. Die traurige Bilanz in Tokio: Erstmals seit Atlanta 1996 gab es keine Medaille. Am nächsten dran waren noch die Hockey-Männer, die das Spiel um Bronze verloren. Für Handballer, Beach-Teams, Basketball­er, Fußballer und die Hockey-Frauen war spätestens im Viertelfin­ale Schluss. Und viele Mannschaft­en wie die Fußballeri­nnen oder beide Volleyball-Teams waren diesmal ja gar nicht erst qualifizie­rt.

RAISNERS RUFE: „Hau drauf, hau richtig drauf“, ist eine Ansage, die im Sport mit Pferden nichts zu suchen hat und doch zu hören war im Tokyo Stadium. Bundestrai­nerin Kim Raisner versuchte, die völlig verzweifel­te Fünfkämpfe­rin Annika Schleu anzusporne­n, den verunsiche­rten Saint Boy mit Gewalt in die Spur zu bringen. Ein Unding, nicht nur für viele TV-Zuschauer, sondern auch für Dressur-Queen Isabell Werth. „Fünfkampf hat nichts mit Reiten zu tun“, befand sie: „Die Pferde sind ein Transportm­ittel, zu denen die Athleten keinerlei Bezug haben.“

VETTERS VERZWEIFLU­NG: „Zum Kotzen“– kurz und knapp fasste Johannes Vetter die Gesamtsitu­ation zusammen. Sein eigenes Gefühlscha­os, die verpasste Medaille, die riesige Enttäuschu­ng, als großer Favorit im Speerwurf nicht mal das Finale der besten Acht erreicht zu haben. Es sollte der Ort seines größten Triumphs werden, stattdesse­n rutschte Vetter aus. Weil der 28-Jährige überhaupt nicht mit dem Anlaufbela­g zurechtkam, reichte es für das Kraftpaket aus Offenburg mit schwachen 82,52 Metern nur zu Platz neun.

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 ?? FOTO: DPA-OLYMPIATEA­M/DPA ?? Die zehnteilig­e Kombo zeigt die deutschen Goldmedail­lengewinne­r bei den Olympische­n Sommerspie­len in Tokio. Oben von links: Florian Wellbrock (Freiwasser), Julia Krajewski (Vielseitig­keit), Malaika Mihambo (Weitsprung) und Alexander Zverev (Tennis). In der Mitte von links: Jessica von Bredow-Werndl (Dressur Einzel), Aline Rotter-Focken (Ringen), Ricarda Funk (Kanu/Slalom) sowie Dorothee Schneider, Isabell Werth und von Bredow-Werndl (Dressur Mannschaft). Unten von links: Max Rendschmid­t, Ronald Rauhe, Tom Liebscher und Max Lemke (Kajak-Vierer) und Franziska Brauße sowie Franziska Brauße, die Saarländer­in Lisa Klein, Mieke Kröger und Lisa Brennauer (Bahnrad, 4000 Meter Mannschaft­sverfolgun­g).
FOTO: DPA-OLYMPIATEA­M/DPA Die zehnteilig­e Kombo zeigt die deutschen Goldmedail­lengewinne­r bei den Olympische­n Sommerspie­len in Tokio. Oben von links: Florian Wellbrock (Freiwasser), Julia Krajewski (Vielseitig­keit), Malaika Mihambo (Weitsprung) und Alexander Zverev (Tennis). In der Mitte von links: Jessica von Bredow-Werndl (Dressur Einzel), Aline Rotter-Focken (Ringen), Ricarda Funk (Kanu/Slalom) sowie Dorothee Schneider, Isabell Werth und von Bredow-Werndl (Dressur Mannschaft). Unten von links: Max Rendschmid­t, Ronald Rauhe, Tom Liebscher und Max Lemke (Kajak-Vierer) und Franziska Brauße sowie Franziska Brauße, die Saarländer­in Lisa Klein, Mieke Kröger und Lisa Brennauer (Bahnrad, 4000 Meter Mannschaft­sverfolgun­g).
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FOTO: KAPPELER/DPA Der neunte Platz von Speerwerfe­r Johannes Vetter ist sportlich gesehen wohl die größte Enttäuschu­ng im deutschen Team.
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FOTO: PFÖRTNER/DPA Die deutschen Handballer schieden in Tokio im Viertelfin­ale aus. Vor allem Kapitän Uwe Gensheimer war schwach und unzufriede­n mit sich.
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FOTO: MURAT/DPA Nullnummer für die deutschen Sportschüt­zen: Rio-Olympiasie­ger Christian Reitz ging in Tokio überrasche­nd leer aus.

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