Die große deutsche Olympia-Bilanz
37 Medaillen, darunter zehn Olympiasiege, aber auch viele Enttäuschungen – die Tokio-Bilanz fällt insgesamt eher ernüchternd aus.
TOKIO (sid) Zehn goldene Momente, aber auch viele Enttäuschungen und Skandale: Am Montagnachmittag ist der Rest der Tokio-Delegation auf dem Frankfurter Römer eingetroffen. Das Team hatte neben der schlechtesten Medaillenbilanz seit der Wiedervereinigung auch zwei Skandale um Funktionäre und einen Corona-Schreck vom Schlusstag aus Japan mitgebracht. Rang neun im Medaillenspiegel – doch Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), meint: „Die sportliche Bilanz ist insgesamt in Ordnung.“37 Mal Edelmetall, davon zehn Mal Gold, elf Mal Silber und 16 Mal Bronze – das sind fünf Medaillen weniger als bei den Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro und vier weniger als bei der bisherigen Negativmarke in Peking 2008. Die SZ hat Tops und Flops von Team D in Tokio zusammengefasst.
Gründervater Pierre de Coubertin Olympische Spiele – das Gegenteil bewiesen die Frauen im „Team D“. Sieben von bislang zehn Goldmedaillen hängen um den Hals deutscher Athletinnen. Dies passe „ganz gut in unsere Zeit“, sagte Vielseitigkeits-Olympiasiegerin Krajewski. Für den weiblichen Nachwuchs und die Olympiasiegerinnen von morgen ist dies ein wichtiger Impuls.
ENDE DER DURSTSTRECKE: Lange 33 Jahre mussten die deutschen Schwimmer auf den nächsten Olympiasieger seit Michael Groß warten – dann schrieb Florian Wellbrock in der Bucht von Tokio sein „persönliches Sommermärchen“. Als erster Deutscher überhaupt gewann er Gold im Freiwasser. Zuvor hatten Wellbrock und seine Verlobte Sarah Köhler mit jeweils Bronze schon die ersten Beckenmedaillen nach zwei Nullnummern in London und Rio gewonnen.
DRECHSLERS ERBIN: Malaika Mihambo glaubte immer an diese „allerletzte Chance“– und mit diesem letzten Sprung landete sie dann auch im puren Glück. Erst im sechsten Versuch setzte sich die Weltmeisterin aufs oberste Treppchen und kürte sich zur ersten deutschen Weitsprung-Olympiasiegerin seit Heike Drechsler 2000 in Sydney. Bei ihrem Flug in den Olymp konnte sie es sich sogar leisten, 20 Zentimeter am Brett zu verschenken.
REKORDSHOW: Mehr Dominanz geht nicht: Sage und schreibe drei Weltrekorde stellten die Frauen des Bahnrad-Vierers binnen 25 Stunden auf und rauschten zu Gold in der Mannschaftsverfolgung. Die Saarländerin Lisa Klein, Lisa Brennauer, Franziska Brauße und Mieke Kröger sorgten damit für den ersten Olympiasieg eines deutschen Frauen-Teams in der Königsdisziplin des Bahnrad-Sports überhaupt. Klein gewann als erste Saarländerin seit Michael Jakosits und Andreas Walzer 1992 in Barcelona Olympia-Gold.
RINGER IM RAUSCH: Den Bierstand im olympischen Dorf suchte Frank Stäbler vergeblich, der Partystimmung bei den deutschen Ringern tat dies keinen Abbruch. Stäbler machte mit Bronze doch noch seinen Frieden mit Olympia, Denis Kudla zog nach, doch für das große Highlight sorgte Aline Rotter-Focken als erste deutsche Ringer-Olympiasiegerin. Nun will sie sich einen zweiten Traum erfüllen: „Ein langes, glückliches Leben führen und eine kleine Familie gründen.“
BOOTS-PAPA RAUHE: Erst der Sieg als „Boots-Papa“des Kajak-Vierers, dann die Ehre als Fahnenträger bei der Schlussfeier – Ronald Rauhe eilte von einem Höhepunkt zum nächsten. In Tokio erlebte Rauhe seine sechsten Olympischen Spiele, seine 16 WM-Titel sind ebenso Rekord wie seine mehr als 60 Goldmedaillen bei deutschen Meisterschaften. Nach der Schlussfeier eilte Rauhe auf dem schnellsten Weg zurück nach Hause und verzichtete auf den Olympia-Empfang am Montag in Frankfurt. An diesem Dienstag fährt er nämlich Sohn Til zur Schule: „Das ist so abgesprochen.“
FLOPS
DER FALL MOSTER UND DER DOSB: Eindeutig der unwürdige Tiefpunkt der Spiele aus deutscher Sicht – und dabei geht es lange nicht nur um den unsäglichen „Kameltreiber“-Ausspruch von Patrick Moster. Dass es einen Tag dauerte, bis der Deutsche Olympische Sportbund den Sportdirektor der deutschen Radfahrer aus Tokio abzog, war mindestens genauso eklatant. Bei Rassismus muss man nämlich nicht erst „gründlich nachdenken“, wie DOSB-Präsident Alfons Hörmann behauptete, um schnell richtig zu handeln.
BEST OF THE REST: Klar, Medaillen sind nicht alles – aber eben auch nicht unwichtig für die Bilanz der Spiele. Und demnach ist Deutschland nur noch „Best of the Rest“– wenn überhaupt. Die Zahl der Goldmedaillen schrumpfte zwischen Rio (17) und Tokio (10) deutlich. Die USA und China sind ohnehin unerreichbar – doch auch zu Japanern, Australiern und Briten klafft eine gewaltige Lücke. Stattdessen bewegte sich das deutsche Team in Tokio nur noch in Regionen von Italien, den Niederlanden oder Neuseeland.
FUSSBALL-RESTERAMPE: Der deutsche Fußball gab in Tokio gar kein gutes Bild ab, das Aus in der Gruppenphase war dafür aber zweitrangig. Dass es einem DFB-Trainer aufgrund mangelnder Unterstützung der Clubs und Egoismus von Spielern nicht gelingt, einen Olympia-Kader mit 22 Spielern vollzukriegen, ist ein absolutes Armutszeugnis. U21-Erfolgscoach Stefan
Kuntz musste einem leid tun – seine Tokio-Mission war von Beginn an zum Scheitern verurteilt.
GEFALLENER GOLD-FAVORIT: Wie tief die Trauer bei Oliver Zeidler saß, offenbarte sich der Öffentlichkeit erst mit einem Tag Verspätung. Das 2,03 Meter große und 103 Kilo schwere Kraftpaket hatte selbstbewusst Gold im Ruder-Einer angekündigt, ein Finale gewann er in Tokio auch – leider das falsche. Der Weltmeister zeigte im Halbfinale Nerven, am Ende blieben nur der Sieg im B-Endlauf und jede Menge Tränen und Wut auf sich selbst.
FEHLSCHÜTZEN: Fünf Finals, keine Medaille für die Sportschützen um Rio-Olympiasieger Christian Reitz.„Es ist schon eher ein schlechtes Abschneiden“, sagte Sportdirektor Heiner Gabelmann und brachte die Enttäuschung auf den Punkt. Zuletzt hatte es 2012 in London kein Edelmetall gegeben. Vom herausragenden Abschneiden in Rio (dreimal Gold, einmal Silber) waren die Pistolen-, Gewehr- und Flintenschützen in Japan meilenweit entfernt.
TRAURIGE TEAMS: Was waren die Mannschaftssportarten mal für Medaillengaranten. In Rio bescherten die deutschen Fußballerinnen und Beachvolleyballerinnen goldene Momente, auch die Fußballmänner, die Handballer und Hockey-Teams holten Edelmetall ab. Die traurige Bilanz in Tokio: Erstmals seit Atlanta 1996 gab es keine Medaille. Am nächsten dran waren noch die Hockey-Männer, die das Spiel um Bronze verloren. Für Handballer, Beach-Teams, Basketballer, Fußballer und die Hockey-Frauen war spätestens im Viertelfinale Schluss. Und viele Mannschaften wie die Fußballerinnen oder beide Volleyball-Teams waren diesmal ja gar nicht erst qualifiziert.
RAISNERS RUFE: „Hau drauf, hau richtig drauf“, ist eine Ansage, die im Sport mit Pferden nichts zu suchen hat und doch zu hören war im Tokyo Stadium. Bundestrainerin Kim Raisner versuchte, die völlig verzweifelte Fünfkämpferin Annika Schleu anzuspornen, den verunsicherten Saint Boy mit Gewalt in die Spur zu bringen. Ein Unding, nicht nur für viele TV-Zuschauer, sondern auch für Dressur-Queen Isabell Werth. „Fünfkampf hat nichts mit Reiten zu tun“, befand sie: „Die Pferde sind ein Transportmittel, zu denen die Athleten keinerlei Bezug haben.“
VETTERS VERZWEIFLUNG: „Zum Kotzen“– kurz und knapp fasste Johannes Vetter die Gesamtsituation zusammen. Sein eigenes Gefühlschaos, die verpasste Medaille, die riesige Enttäuschung, als großer Favorit im Speerwurf nicht mal das Finale der besten Acht erreicht zu haben. Es sollte der Ort seines größten Triumphs werden, stattdessen rutschte Vetter aus. Weil der 28-Jährige überhaupt nicht mit dem Anlaufbelag zurechtkam, reichte es für das Kraftpaket aus Offenburg mit schwachen 82,52 Metern nur zu Platz neun.