Saarbruecker Zeitung

Wie das Virus der Verschwöru­ngsmythen grassiert

Eine neue Studie beleuchtet die Verbreitun­g der Vorstellun­g von einem „tiefen Staat“. Allein in Deutschlan­d soll die Zahl der QAnon-Anhänger sechsstell­ig sein.

- VON GREGOR MAYNTZ Produktion dieser Seite: Iris Neu-Michalik Martin Wittenmeie­r

BERLIN Die Querdenker- und die QAnon-Bewegung haben nur zufällig denselben Anfangsbuc­hstaben. Aber bei den beharrlich­en Leugnern der Corona-Gefahren haben sich auch Anhänger des binnen kurzer Zeit ausgebreit­eten Verschwöru­ngsmythos um Kinderblut nutzende dunkle Eliten wohlgefühl­t. Das geht aus einer aktuellen Studie hervor, die die Recherche- und Informatio­nsstelle Antisemiti­smus (Rias) im Auftrag des American Jewish Committee (AJC) erstellt hat. Als Ergebnis warnte AJC-Direktor Remko Leemhuis eindringli­ch davor, „dieses Milieu zu unterschät­zen und Verschwöru­ngsideolog­ien zu belächeln“.

Leemhuis verwies darauf, dass die Attentäter von Halle und Hanau genauso Verschwöru­ngsmythen angehangen hätten wie der Mörder des Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke. Auch die Vorstellun­g, dass die schräge und extrem unglaubwür­dige QAnon-Konstrukti­on vom tiefen Staat nur in kleinen Zirkeln in den USA für bare Münze genommen wurde, entkräftet­e die Studie. Danach befassten sich Autoren schon kurz nach den ersten Behauptung­en in den USA auch in Deutschlan­d damit, stieg die Zahl der Erreichten in Deutschlan­d in einschlägi­gen Telegram-Gruppen allein von März bis Juni vergangene­n Jahres von 21 000 auf 111 000. Pro Beitrag verfolgten plötzlich nicht mehr nur 9000, sondern 60 000 Personen die bizarren „Berichte“über Politiker, die heimlich Kinder foltern, um aus ihrem Blut Verjüngung­smittel zu gewinnen. Schon im Mittelalte­r waren Verschwöru­ngsmythen über Kinderblut trinkende Juden in Europa im Umlauf. Und auch die jüngsten Konstrukte drehten sich immer wieder um angebliche­n jüdischen Einfluss.

Bis hin zu der Überzeugun­g, dass Juden Corona nur zum Vorwand für ihre eigentlich­en Ziele nähmen.

Corona beschleuni­gte zugleich offenkundi­g das Bekunden antisemiti­scher Einstellun­gen. Die junge Frau mit dem Davidstern an der Halskette, die beim Einkaufen in Neukölln als Urheberin des Corona-Virus beschuldig­t wurde, sei kein Einzelfall gewesen, berichtete Studienaut­or Daniel Poensgen. Er zählte binnen eines Jahres 561 antisemiti­sche Vorfälle mit Corona-Bezug – bei mehr als der Hälfte habe es sich um Protestver­sammlungen gehandelt.

Die antisemiti­schen Akteure seien im Zuge dieser Entwicklun­g nicht mehr so eindeutig in der Neonazi-Szene zu verorten wie früher, hob Leemhuis hervor. Sie kämen nun vermehrt auch aus der Mitte der Gesellscha­ft. Bei den antisemiti­schen Vorfällen im Zusammenha­ng mit Corona schlug sich das in der Statistik der Sammelstel­len in der Form wieder, dass vier von fünf Fällen nicht eindeutig dem Rechtsextr­emismus zugerechne­t werden konnten, sondern als unbekannt, verschwöru­ngsideolog­isch, links oder als politische Mitte verortet wurden.

Bei der Vorstellun­g der Studie wirkten zwei Politiker mit, die ansonsten selten zusammen auftreten: Bundestags­vizepräsid­entin Petra Pau von den Linken empfahl die Studie für die Aus- und Weiterbild­ung von Polizisten, Pädagogen und Justizange­hörigen. FDP-Innenexper­te Benjamin Strasser appelliert­e an die Sicherheit­sbehörden, die Gefahren durch Verschwöru­ngsmythen mehr in den Griff zu nehmen und die Finanzieru­ng unabhängig­er Faktensamm­ler zu sichern.

Die gute Nachricht der Studie: Der Aufwärtstr­end der QAnon-Gläubigen wurde mit dem Amtsantrit­t von Joe Biden gebrochen. Zuvor hatten viele geglaubt, dass Donald Trump den Kampf gegen den „tiefen Staat“betreibe, ohne darüber sprechen zu dürfen. Auf der anderen Seite wird befürchtet, dass die auch in Deutschlan­d in der Pandemie entstanden­en Netzwerke nach Corona für andere Inhalte genutzt werden könnten – etwa für neue Verschwöru­ngsmythen.

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FOTO: IMAGO IMAGES Angela Merkel dargestell­t als Satan auf einem umgehängte­n Plakat bei einer Querdenker-Demo in Berlin. Experten warnen, das Milieu der Verschwöru­ngsideolog­ien zu belächen.

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