Wie das Virus der Verschwörungsmythen grassiert
Eine neue Studie beleuchtet die Verbreitung der Vorstellung von einem „tiefen Staat“. Allein in Deutschland soll die Zahl der QAnon-Anhänger sechsstellig sein.
BERLIN Die Querdenker- und die QAnon-Bewegung haben nur zufällig denselben Anfangsbuchstaben. Aber bei den beharrlichen Leugnern der Corona-Gefahren haben sich auch Anhänger des binnen kurzer Zeit ausgebreiteten Verschwörungsmythos um Kinderblut nutzende dunkle Eliten wohlgefühlt. Das geht aus einer aktuellen Studie hervor, die die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) im Auftrag des American Jewish Committee (AJC) erstellt hat. Als Ergebnis warnte AJC-Direktor Remko Leemhuis eindringlich davor, „dieses Milieu zu unterschätzen und Verschwörungsideologien zu belächeln“.
Leemhuis verwies darauf, dass die Attentäter von Halle und Hanau genauso Verschwörungsmythen angehangen hätten wie der Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Auch die Vorstellung, dass die schräge und extrem unglaubwürdige QAnon-Konstruktion vom tiefen Staat nur in kleinen Zirkeln in den USA für bare Münze genommen wurde, entkräftete die Studie. Danach befassten sich Autoren schon kurz nach den ersten Behauptungen in den USA auch in Deutschland damit, stieg die Zahl der Erreichten in Deutschland in einschlägigen Telegram-Gruppen allein von März bis Juni vergangenen Jahres von 21 000 auf 111 000. Pro Beitrag verfolgten plötzlich nicht mehr nur 9000, sondern 60 000 Personen die bizarren „Berichte“über Politiker, die heimlich Kinder foltern, um aus ihrem Blut Verjüngungsmittel zu gewinnen. Schon im Mittelalter waren Verschwörungsmythen über Kinderblut trinkende Juden in Europa im Umlauf. Und auch die jüngsten Konstrukte drehten sich immer wieder um angeblichen jüdischen Einfluss.
Bis hin zu der Überzeugung, dass Juden Corona nur zum Vorwand für ihre eigentlichen Ziele nähmen.
Corona beschleunigte zugleich offenkundig das Bekunden antisemitischer Einstellungen. Die junge Frau mit dem Davidstern an der Halskette, die beim Einkaufen in Neukölln als Urheberin des Corona-Virus beschuldigt wurde, sei kein Einzelfall gewesen, berichtete Studienautor Daniel Poensgen. Er zählte binnen eines Jahres 561 antisemitische Vorfälle mit Corona-Bezug – bei mehr als der Hälfte habe es sich um Protestversammlungen gehandelt.
Die antisemitischen Akteure seien im Zuge dieser Entwicklung nicht mehr so eindeutig in der Neonazi-Szene zu verorten wie früher, hob Leemhuis hervor. Sie kämen nun vermehrt auch aus der Mitte der Gesellschaft. Bei den antisemitischen Vorfällen im Zusammenhang mit Corona schlug sich das in der Statistik der Sammelstellen in der Form wieder, dass vier von fünf Fällen nicht eindeutig dem Rechtsextremismus zugerechnet werden konnten, sondern als unbekannt, verschwörungsideologisch, links oder als politische Mitte verortet wurden.
Bei der Vorstellung der Studie wirkten zwei Politiker mit, die ansonsten selten zusammen auftreten: Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau von den Linken empfahl die Studie für die Aus- und Weiterbildung von Polizisten, Pädagogen und Justizangehörigen. FDP-Innenexperte Benjamin Strasser appellierte an die Sicherheitsbehörden, die Gefahren durch Verschwörungsmythen mehr in den Griff zu nehmen und die Finanzierung unabhängiger Faktensammler zu sichern.
Die gute Nachricht der Studie: Der Aufwärtstrend der QAnon-Gläubigen wurde mit dem Amtsantritt von Joe Biden gebrochen. Zuvor hatten viele geglaubt, dass Donald Trump den Kampf gegen den „tiefen Staat“betreibe, ohne darüber sprechen zu dürfen. Auf der anderen Seite wird befürchtet, dass die auch in Deutschland in der Pandemie entstandenen Netzwerke nach Corona für andere Inhalte genutzt werden könnten – etwa für neue Verschwörungsmythen.