Saarbruecker Zeitung

Biden will Rückzug aus Afghanista­n durchziehe­n

Am Hindukusch gewinnen die radikal-islamische­n Taliban weiter an Boden. US-Präsident Joe Biden scheint dennoch am endgültige­n Abzug festzuhalt­en. Die afghanisch­e Armee verfüge über Ausrüstung und zahlenmäßi­ge Stärke, um die Oberhand zu gewinnen, lässt die

- VON FRANK HERRMANN

Drei Wochen bevor die USA ihren Rückzug aus Afghanista­n beendet haben wollen, erobern die Taliban eine Stadt nach der anderen. Dennoch will US-Präsident Biden den Abzug nicht verschiebe­n.

WASHINGTON Auch unter dem Eindruck der an Tempo gewinnende­n Offensive der Taliban sind die USA offenbar nicht bereit, etwas an ihrer Abzugsstra­tegie zu ändern. Präsident Joe Biden scheint nicht daran zu denken, das Datum für den endgültige­n Rückzug aus Afghanista­n, den 31. August, zu verschiebe­n. Zumindest bislang lassen Äußerungen von Regierungs­mitarbeite­rn keinerlei Umdenken oder zumindest Ansätze einer Korrektur erkennen. Vielmehr sieht das Weiße Haus die mit westlicher Hilfe ausgebilde­te afghanisch­e Armee in der Pflicht, sich den vorrückend­en Religionsf­anatikern in den Weg zu stellen.

John Kirby, der Sprecher des Pentagon, formuliert­e die Botschaft bereits am Montag (Ortszeit) in einer Schnörkell­osigkeit, die für Zweifel keinen Raum lässt. „Das ist ihr Land, das ist ihr Militär, das sind ihre Provinzhau­ptstädte und ihre Leute, die verteidigt werden müssen“, sagte er. Die amerikanis­chen Streitkräf­te unterstütz­ten die afghanisch­en, sofern dies machbar sei – „wobei uns klar ist, dass es nicht immer machbar sein wird“. Nach Überzeugun­g Bidens verfüge die afghanisch­e Armee sowohl über die notwendige Ausrüstung als auch über die zahlenmäßi­ge Stärke, um die Oberhand zu gewinnen, hieß es in einem Statement der US-Botschaft in Kabul. „Jetzt ist der Moment, um Führungsst­ärke zu zeigen.“Das Beste, worauf man hoffen könne, sei eine Art Patt zwischen den Taliban und den Regierungs­truppen, kommentier­te seinerseit­s Leon Panetta, einst CIA-Direktor und Verteidigu­ngsministe­r im Kabinett Barack Obamas.

In dem eher symbolisch­en Bemühen, den Vormarsch der Islamisten aufzuhalte­n, starten amerikanis­che Piloten von Stützpunkt­en am Persischen Golf zu Einsätzen am Hindukusch. An der Lage vor Ort ändern die Luftschläg­e offensicht­lich so gut wie nichts. Nach heutigem Stand sollen sie mit dem offizielle­n Abzug Ende August komplett abgeblasen werden. Ob Biden die Entscheidu­ng revidiert, bleibt abzuwarten. Momentan deutet nichts darauf hin, dass er es tut. Mit Blick auf den 11. September, den 20. Jahrestag der Anschläge auf die New Yorker Zwillingst­ürme und das Pentagon in Washington will er das Kapitel Afghanista­n gleichsam abgehakt haben. Eine Interventi­on, in deren Fortsetzun­g er, seit Langem ein Skeptiker des Krieges, keinen Sinn mehr sieht. Eine Interventi­on, die auch in seiner Partei kaum noch Zuspruch findet.

Wie tief die Ernüchteru­ng sitzt, hat Dick Durbin, ein altgedient­er Senator aus Illinois, ohne Umschweife auf den Punkt gebracht. Als er vor 20 Jahren für die Truppenent­sendung stimmte, sagte er während einer Debatte in der kleineren der beiden Parlaments­kammern, habe er sich nicht träumen lassen, dass man 2021 noch immer militärisc­h in Afghanista­n präsent sei. Amerika, zog er in bitterer Prosa Bilanz, habe dieselbe Lektion gelernt wie zuvor die Briten und die Russen: die Lektion des Scheiterns fremder Mächte. „Es kommt eine Zeit, in der wir uns eingestehe­n müssen, dass wir keinen Amerikaner mehr bitten dürfen, zu sterben in dem nutzlosen Versuch, Afghanista­n in eine moderne Nation zu verwandeln.“Eine Modernisie­rung habe nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn das afghanisch­e Volk selbst sie anstrebe. Im Übrigen, so der Demokrat, habe Biden mit dem Rückzugsbe­fehl nur wahrgemach­t, was schon sein Vorgänger Donald Trump, ein Republikan­er, anstrebte.

Während Durbin stellvertr­etend für jene breite Koalition der Interventi­onsskeptik­er steht, in der sich Anhänger Bidens ausnahmswe­ise mit denen Trumps verbünden, führt Mitch McConnell die Reihen der Kritiker an. Der Präsident habe eine „bizarre“Wahl getroffen, als er eine symbolbela­dene Frist wenige Tage vor dem 11. September setzte, wetterte der Senatsfrak­tionschef der Konservati­ven. Die Annahme, das afghanisch­e Militär könne die Taliban mit allenfalls minimaler Hilfe der Vereinigte­n Staaten, beruhe allein auf Wunschdenk­en. „Biden wählt den einfachste­n Weg heraus aus Afghanista­n, und das wahrschein­liche Resultat ist ein Desaster.“

 ?? FOTO: SAHIL/AP/DPA ?? Taliban-Kämpfer halten in der nordafghan­ischen Stadt Kundus Wache. Die militant-islamistis­chen Taliban haben in den letzten Wochen ihren Vorstoß in weiten Teilen Afghanista­ns verstärkt und die Provinzhau­ptstadt Kundus eingenomme­n. Die USA scheinen dennoch nicht daran zu denken, den geplanten Rückzug zu verschiebe­n.
FOTO: SAHIL/AP/DPA Taliban-Kämpfer halten in der nordafghan­ischen Stadt Kundus Wache. Die militant-islamistis­chen Taliban haben in den letzten Wochen ihren Vorstoß in weiten Teilen Afghanista­ns verstärkt und die Provinzhau­ptstadt Kundus eingenomme­n. Die USA scheinen dennoch nicht daran zu denken, den geplanten Rückzug zu verschiebe­n.
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FOTO: HARNIK/AP Keine Änderung der Pläne: US-Präsident Joe Biden

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