Biden will Rückzug aus Afghanistan durchziehen
Am Hindukusch gewinnen die radikal-islamischen Taliban weiter an Boden. US-Präsident Joe Biden scheint dennoch am endgültigen Abzug festzuhalten. Die afghanische Armee verfüge über Ausrüstung und zahlenmäßige Stärke, um die Oberhand zu gewinnen, lässt die
Drei Wochen bevor die USA ihren Rückzug aus Afghanistan beendet haben wollen, erobern die Taliban eine Stadt nach der anderen. Dennoch will US-Präsident Biden den Abzug nicht verschieben.
WASHINGTON Auch unter dem Eindruck der an Tempo gewinnenden Offensive der Taliban sind die USA offenbar nicht bereit, etwas an ihrer Abzugsstrategie zu ändern. Präsident Joe Biden scheint nicht daran zu denken, das Datum für den endgültigen Rückzug aus Afghanistan, den 31. August, zu verschieben. Zumindest bislang lassen Äußerungen von Regierungsmitarbeitern keinerlei Umdenken oder zumindest Ansätze einer Korrektur erkennen. Vielmehr sieht das Weiße Haus die mit westlicher Hilfe ausgebildete afghanische Armee in der Pflicht, sich den vorrückenden Religionsfanatikern in den Weg zu stellen.
John Kirby, der Sprecher des Pentagon, formulierte die Botschaft bereits am Montag (Ortszeit) in einer Schnörkellosigkeit, die für Zweifel keinen Raum lässt. „Das ist ihr Land, das ist ihr Militär, das sind ihre Provinzhauptstädte und ihre Leute, die verteidigt werden müssen“, sagte er. Die amerikanischen Streitkräfte unterstützten die afghanischen, sofern dies machbar sei – „wobei uns klar ist, dass es nicht immer machbar sein wird“. Nach Überzeugung Bidens verfüge die afghanische Armee sowohl über die notwendige Ausrüstung als auch über die zahlenmäßige Stärke, um die Oberhand zu gewinnen, hieß es in einem Statement der US-Botschaft in Kabul. „Jetzt ist der Moment, um Führungsstärke zu zeigen.“Das Beste, worauf man hoffen könne, sei eine Art Patt zwischen den Taliban und den Regierungstruppen, kommentierte seinerseits Leon Panetta, einst CIA-Direktor und Verteidigungsminister im Kabinett Barack Obamas.
In dem eher symbolischen Bemühen, den Vormarsch der Islamisten aufzuhalten, starten amerikanische Piloten von Stützpunkten am Persischen Golf zu Einsätzen am Hindukusch. An der Lage vor Ort ändern die Luftschläge offensichtlich so gut wie nichts. Nach heutigem Stand sollen sie mit dem offiziellen Abzug Ende August komplett abgeblasen werden. Ob Biden die Entscheidung revidiert, bleibt abzuwarten. Momentan deutet nichts darauf hin, dass er es tut. Mit Blick auf den 11. September, den 20. Jahrestag der Anschläge auf die New Yorker Zwillingstürme und das Pentagon in Washington will er das Kapitel Afghanistan gleichsam abgehakt haben. Eine Intervention, in deren Fortsetzung er, seit Langem ein Skeptiker des Krieges, keinen Sinn mehr sieht. Eine Intervention, die auch in seiner Partei kaum noch Zuspruch findet.
Wie tief die Ernüchterung sitzt, hat Dick Durbin, ein altgedienter Senator aus Illinois, ohne Umschweife auf den Punkt gebracht. Als er vor 20 Jahren für die Truppenentsendung stimmte, sagte er während einer Debatte in der kleineren der beiden Parlamentskammern, habe er sich nicht träumen lassen, dass man 2021 noch immer militärisch in Afghanistan präsent sei. Amerika, zog er in bitterer Prosa Bilanz, habe dieselbe Lektion gelernt wie zuvor die Briten und die Russen: die Lektion des Scheiterns fremder Mächte. „Es kommt eine Zeit, in der wir uns eingestehen müssen, dass wir keinen Amerikaner mehr bitten dürfen, zu sterben in dem nutzlosen Versuch, Afghanistan in eine moderne Nation zu verwandeln.“Eine Modernisierung habe nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn das afghanische Volk selbst sie anstrebe. Im Übrigen, so der Demokrat, habe Biden mit dem Rückzugsbefehl nur wahrgemacht, was schon sein Vorgänger Donald Trump, ein Republikaner, anstrebte.
Während Durbin stellvertretend für jene breite Koalition der Interventionsskeptiker steht, in der sich Anhänger Bidens ausnahmsweise mit denen Trumps verbünden, führt Mitch McConnell die Reihen der Kritiker an. Der Präsident habe eine „bizarre“Wahl getroffen, als er eine symbolbeladene Frist wenige Tage vor dem 11. September setzte, wetterte der Senatsfraktionschef der Konservativen. Die Annahme, das afghanische Militär könne die Taliban mit allenfalls minimaler Hilfe der Vereinigten Staaten, beruhe allein auf Wunschdenken. „Biden wählt den einfachsten Weg heraus aus Afghanistan, und das wahrscheinliche Resultat ist ein Desaster.“