Von Luxemburg auf den Mount Everest
Eintauchen in filmische Welten der virtuellen Realität können Besucher noch bis 31. August im VRPavillon des Luxemburger Kulturzentrums neimënster. Zu sehen sind spektakuläre Bilder und mehr. Ein Selbstversuch.
LUXEMBURG-STADT Filme in virtueller Realität versprechen, mittels Technik in simulierte dreidimensionale Räume einzutauchen. Monitorbrille und aufwändig gefilmte Bilder sollen in die Filmwelt hineinsaugen. Was im Heimgebrauch noch teuer ist, lässt sich bis 31. August im VR-Pavillon im Luxemburger Kulturzentrum neimënster testen – und genießen.
Was läuft
Besucherinnen und Besucher haben die Wahl zwischen zwei Programmen: Dokumentar und Fiktion. Ich entscheide mich als Dokumentar-Fan und aufgrund all der Preislogos im Programmheft für die Dokumentarsektion mit neun Beiträgen zwischen fünf und 20 Minuten. Und werde nicht enttäuscht, sondern schäle mich am Ende begeistert aus dem Drehsessel.
Wie funktioniert das
Man nimmt im Foyer des Kulturzentrums auf einem Drehsessel Platz. Zum Glück, denn den wird man brauchen. Einmal die Brille auf dem Kopf, erscheint eine Oberfläche, wie man sie von Menüs einer DVD oder einer Startseite von Streaminganbietern kennt. Nun ersetzt der eigene Blick die Fernbedienung: Es wird der Film abgespielt, dessen Startfoto man im Menü für einige Sekunden lang fixiert. Damit man weiß, wie lange man starren muss, läuft eine kleine Sanduhr mit. Einen Zwang zum Durchschauen gibt es übrigens nicht. Wer nicht weiterschauen will, gelangt über das Drücken eines ganz realen Exit-Knopfes am rechten Brillenrand zurück ins Hauptmenü, um einen anderen Film auszuwählen. Die Handhabung ist alles in allem sehr praktisch und intuitiv. Es gibt zwei Sitzplätze, die bespielt werden können.
Was muss man mitbringen
Nichts. Außer Mund- und Nasenschutz, denn die Filme werden drinnen gezeigt. VR-Brillen, ein Oculus Go Headset und Kopfhörer werden, desinfiziert, kostenfrei bereitgestellt. Es wird kein Eintritt verlangt. Brillen zur Sehkorrektur können unter der VR-Brille aufgelassen werden. Die meisten Filme sind englischsprachig, ansonsten stehen englische und französische Untertitel zur Wahl.
Wie fühlt sich das an
Definitiv anders als bei Kino und TV sonst: Bei der Animation „Accused#2: Walter Sislulu“steht man vor einem Richter des südafrikanischen Apartheid-Regimes und erlebt das Verhör von Nelson Mandelas Mentor Walter Sislulu aus dessen Perspektive. Angenehm wie ein Besuch beim Zahnarzt. Bei Rückblenden hat man das Gefühl, auf seinem Sessel in die Höhe gefahren zu werden und auf Arbeiter in tiefen Minen zu blicken. Wer nicht schwindelfrei ist, hält sich instinktiv an den Armlehnen fest. Und es fühlt sich wie ein Rundum-Eintauchen an: Während des zweiten Films fällt meine Jacke vom Stuhl und bleibt entgegen sonstiger Gewohnheiten liegen. Egal, ich bin gerade unterwegs durch eine Favela. Weil ich ständig sehen will, was hinter mir passiert, drehe ich mich gefühlt zum 30. Mal im Drehsessel um die eigene Achse.
Und da ist immer was. Die im Foyer nicht immer leise Umgebung lässt sich angesichts der fesselnden Filmwelten also erstaunlich schnell und konsequent ausblenden.
Welche Filme sind die Perlen
Das gesamte Doku-Programm ist stark, bis auf „Precious Human Factor“, der sich mit einem Laufduell von metaphysischen Figuren und einem philosophischen Monolog vom Rest des Programms einfach zu deutlich abhebt. Meine vier Favoriten stehen schnell fest: „Le Lac“über Umweltprobleme am TschadSee, „Everest“über das Dach der Welt, „Daughters of Chibok“über von Boko Haram verschleppte Schülerinnen und „The Real Thing“über den Grund, warum in China der Pariser Eiffelturm und halb Venedig nachgebaut werden. Man ist mittendrin, umgeben von Achttausendern oder falschen Palazzi und kann sich an diesen Bildern voller Weite nicht statt sehen.
Wo gibt es das stärkste VR-Gefühl Eindeutig die Krönung: In dem Zehnminüter „Everest“stehe ichmit Alpinist und VR-Filmer Jon Griffith und Sherpa Tenji plötzlich am höchsten Berg der Welt und steige mit zum Gipfel hinauf. Egal, wie viele gute Everest-Fernseh-Dokus man daheim auf der Couch gesehen hat, niewar man näher dran. Filmemacher Griffith vermittelt eine Vorstellung davon, wie unfassbar hoch und steil dieser Berg ist, wie dunkel die Nacht dort oben und wie wunderschön dieses Meer aus Eis und Stein. Während die beiden am Gipfel stehen, hoffe ich, dass der Panoramablick über das Dach der Welt noch dauern möge, damit ich so viel wie möglich von dieser Schönheit und Ferne aufsaugen kann. Als der Abspann läuft, merke ich, dass mein Herz stärker klopft und mein Atem schneller geht. Dabei habe ich mich gar nicht bewegt – wie auch, ganz hypnotisiert von der unmittelbaren und nie gekannten Nachbarschaft dieser Wahnsinns-Berge. Definitiv keine alltägliche, sondern eine einmalige Erfahrung. Einziger Wermutstropfen: Warum ist das tolle Erlebnis bloß so kurz?
Wo wird die Luft dünn
Nicht bei „Everest“, sondern bei „Daughters of Chibok“von Joël ‚Kachi Benson. Wenn eine Mutter der knapp 300 Schülerinnen, die 2014 in Nigeria von der terroristischen Vereinigung Boko Haram entführt wurden, nach fünf Jahren vergeblichen Wartens in die Kamera erklärt, wie sie sich die Rückkehr des Mädchens vorstellt, sollte man nicht nah am Wasser gebaut haben. An der Stelle muss ich mich über mich selbst wundern: Ich drehe mich im Sessel von ihr weg und schaue, ob an der Hauswand ihrer Nachbarn nicht zufällig etwas Interessantes passiert. Dem hat der Filmemacher vorgesorgt – hier ist nichts los. Ich weiche also der weinenden Frau mit dem Foto ihrer Tochter in der Hand
aus, die so nah vor mir sitzt. Weil ich ihr nicht helfen kann, und weil dasMädchen höchstwahrscheinlich nie wieder kommt. Aus der normalen Fernseh-Doku-Welt kenne ich mich hartgesottener. „Daughters of Chibok“hat 2019 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig den „Best VR Story Award“für linearen Content gewonnen.
Lohnt sich der VR-Abstecher
In den 360-Grad-Filmen gibt es in jeder Blickrichtung etwas zu entdecken. Nicht jeder Dokumentarfilm erweist sich als so sogartig wie „Everest“. Auch nicht jeder hätte in VR gedreht werden müssen, um seine Botschaft rüberzubringen (etwa „Under The Skin“über eine Favela in Rio de Janeiro). Filmfans, die VR mal für sich testen wollen, haben hier eine sehr gute Gelegenheit. Wer sich für außereuropäische Kulturen und Schicksale jenseits der Schlagzeilen interessiert, wird ein paar kleine Wunder erleben. Erlebnisse, die man so schnell nicht vergessen wird. Und für Bergfans ist die Fahrt eh ein klares Muss.
Geht das nicht auch daheim
Ja. Wer die Filme lieber daheim schauen will, kann sich das VR-Set für 20 Euro und gegen eine Kaution von 200 Euro ausleihen. Entliehen wird von Freitag bis Montag oder von Dienstag bis Donnerstag. Reservierung unter vrtogoluxembourg. eventbrite.co.uk. Tipp: auf einem Drehstuhl schaut sich das besser.
Der VR-Pavillon in Luxemburg-Stadt ist nach dem Hochwasser wieder ab kommendem Montag, 16. August, geöffnet und dann bis Dienstag, 31. August, zu erleben. Täglich von 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei, empfohlen ab 13 Jahren. Weitere Informationen im Internet unter www.neimenster.lu (zu finden unter: Expositions/Pavillon Réalité Virtuelle 2021)