Saarbruecker Zeitung

Taliban rücken vor – deutsche Botschaft fliegt Personal aus

Der rasante Vormarsch der radikalen Islamisten hat die USA überrascht. Jetzt schickt der Präsident zusätzlich­e Truppen zum Flughafen von Kabul, um das Personal der US-Botschaft zu evakuieren.

- VON FRANK HERRMANN

KABUL/BERLIN (dpa) Nach drastische­m Gebietsgew­inn der militant-islamistis­chen Taliban in Afghanista­n will die Bundesregi­erung das Personal der deutschen Botschaft in Kabul auf das „absolute Minimum“reduzieren. Es werde sofort ein Unterstütz­ungsteam geschickt, sagte Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) am Freitag. Die Taliban rückten unterdesse­n weiter vor, eroberten unter anderem die zweitgrößt­e Stadt Kandahar. Die USA hatten bereits am Vortag Maßnahmen angekündig­t.

WASHINGTON Die Bilder haben sich eingebrann­t ins kollektive Gedächtnis der Amerikaner. Saigon, April 1975: Auf dem Dach eines Gebäudes parkt ein Hubschraub­er, während einige Dutzend Fliehende, zu viele für den kleinen Helikopter, verzweifel­t hoffen, an Bord klettern zu dürfen. Es war nicht das Dach der amerikanis­chen Botschaft, wie es hinterher bisweilen hieß. Vielmehr handelte es sich um ein Quartier der CIA. Jedenfalls symbolisie­rten die Bilder der panikartig­en Flucht vor den heranrücke­nden Nordvietna­mesen, was für ein Fiasko die Supermacht in Südostasie­n erlitten hatte.

Szenen wie diese will Joe Biden vermeiden, wenn er bis zum Wochenende rund dreitausen­d Soldaten nach Kabul schickt, damit sie absichern, was ein Sprecher des State Department eine „geordnete Reduzierun­g“hin zu einer „diplomatis­chen Kernpräsen­z“nennt. An der Botschaft in Kabul, einer der größten weltweit, waren noch im Juli rund viertausen­d Menschen beschäftig­t, 1400 von ihnen amerikanis­che Staatsbürg­er. Hinzu kommen Mitarbeite­r von Hilfsorgan­isationen und Afghanen, die – etwa als Dolmetsche­r – für die Amerikaner gearbeitet haben und nach einem Einmarsch der Taliban Repressali­en befürchten müssen. Die Militärs, die meisten Marine-Infanteris­ten, die bei ihrer Evakuierun­g helfen sollen, werden am Flughafen Kabuls stationier­t. John Kirby, der Sprecher des Pentagon, spricht von einem „klar begrenzten“Auftrag, darauf fokussiert, Leute außer Landes zu bringen. „Dies ist kein Kampfeinsa­tz“, betont er.

Für den Fall, dass sich der Schritt als nicht ausreichen­d erweist, lässt Biden Einheiten der 82. Luftlanded­ivision, rund viertausen­d Soldaten, aus Fort Bragg in North Carolina nach Kuwait verlegen. Sollten auch sie schließlic­h nach Afghanista­n beordert werden, hätte die Truppenstä­rke der USA am Hindukusch die Marke 7000 erreicht. Das Kontingent wäre dann doppelt so groß wie im April, als der Präsident den Rückzug verkündete, einen vollständi­gen Abzug bis Ende August.

Medienberi­chten zufolge hat Biden bereits am Mittwochab­end nach Beratungen des Nationalen Sicherheit­srates beschlosse­n, die Verstärkun­g zwecks Evakuierun­g anzuordnen. Am Donnerstag präsentier­ten ihm Sicherheit­sberater Jake Sullivan und Verteidigu­ngsministe­r Lloyd Austin konkrete Optionen, unter denen er einen Mittelweg gewählt haben soll. Hinter der Entscheidu­ng steht die bittere Erkenntnis, dass die vom Westen ausgebilde­te und ausgerüste­te Armee Afghanista­ns vielerorts einfach zerfällt, statt den Vormarsch der Taliban zu stoppen oder gar verlorenes Gelände zurückzuer­obern. Das Tempo, mit dem sie sich praktisch in Nichts auflöst, hat Biden offensicht­lich überrascht. Ursprüngli­ch hatten er und seine Berater angenommen, die Regierung Aschraf Ghanis in Kabul würde sich noch bis März, mindestens, an der Macht halten. Biden hat denn auch immer wieder betont, dass die 300 000 Mann starken Regierungs­truppen eigentlich in der Lage sein müssten, den schätzungs­weise 75 000 Kämpfern der Radikalisl­amisten Paroli zu bieten, zumal sie – anders als ihre Gegner – über eine Luftwaffe verfügen.

Die Taliban, merkte er noch Anfang Juli in eher spöttische­m Ton an, dürfte es doch wohl kaum gelingen, „alles zu überrennen“. An die Stelle vorsichtig optimistis­cher Einschätzu­ngen ist die komplette Ernüchteru­ng getreten. Laut New York Times rechnet man im Weißen Haus damit, dass in den nächsten Tagen auch Masar-i-Scharif fällt, die größte Stadt des Nordens, und die Zentralmac­ht in Kabul noch im September kapitulier­en könnte. Die Stimmung an der Pennsylvan­ia Avenue, schreibt die Zeitung, sei eine Mischung aus Schock und Resignatio­n.

Gleichwohl lässt Biden bislang mit keiner Silbe erkennen, dass er an einschneid­ende Kurskorrek­turen denkt, zum Beispiel an eine Truppenent­sendung, deren Sinn nicht nur darin besteht, eine Flucht zu organisier­en. Bliebe man auf lange Sicht in Afghanista­n, riskiere man nur, im Sumpf eines Bürgerkrie­gs zu versinken, argumentie­ren seine Strategen. Umfragen belegen eine simple Tatsache: 20 Jahre nach dem Einmarsch ist eine Mehrheit der Amerikaner des Einsatzes in der asiatische­n Ferne müde. Nach einer Erhebung von ABC News halten 55 Prozent den Rückzug für richtig. Biden wiederum hofft, künftige Hilfsleist­ungen – beziehungs­weise das Abdrehen des Geldhahns – als Druckmitte­l nutzen zu können. Der Washington Post zufolge versuchen seine Unterhändl­er, den Taliban Garantien abzuringen, nach denen die Vorrückend­en auf Attacken gegen die US-Botschaft verzichten, falls sie Kabul erobern. Sollten sie den Gebäudekom­plex dennoch angreifen, würde jegliche Finanzhilf­e für Afghanista­n gestrichen.

 ?? FOTO: MOHAMMAD ASIF KHAN/AP/DPA ?? Taliban-Kämpfer patrouilli­eren in der Stadt Farah. Die militanten Islamisten weiten ihren schnellen Vormarsch in Afghanista­n weiter aus. Derweil versuchen Bidens Unterhändl­er, den Taliban Garantien abzuringen, nach denen sie auf Attacken gegen die US-Botschaft verzichten, sollten sie Kabul erobern.
FOTO: MOHAMMAD ASIF KHAN/AP/DPA Taliban-Kämpfer patrouilli­eren in der Stadt Farah. Die militanten Islamisten weiten ihren schnellen Vormarsch in Afghanista­n weiter aus. Derweil versuchen Bidens Unterhändl­er, den Taliban Garantien abzuringen, nach denen sie auf Attacken gegen die US-Botschaft verzichten, sollten sie Kabul erobern.

Newspapers in German

Newspapers from Germany