„Wir werden Charterflüge organisieren“
Der Staatsminister im Auswärtigen Amt will bis Ende des Monats noch einmal eine größere Anzahl Deutsche aus Afghanistan holen.
BERLIN Stadt für Stadt fällt – die Taliban sind in Afghanistan weiter auf dem Vormarsch. Droht Europa eine neue Flüchtlingswelle? Und wann können die verbliebenen Ortskräfte nach Deutschland? Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, (SPD) kündigt rasche Hilfe an.
Herr Roth, die Frage der afghanischen Ortskräfte bewegt viele. Es gibt den Vorwurf, auch des Innenministers, dass das Auswärtige Amt zu bürokratisch vorgeht. Was sagen Sie dazu?
ROTH Diesen Vorwurf weise ich zurück. Wir haben bereits 2400 Visa für ehemalige Ortskräfte erteilt. Davon sind bereits über 1800 nach Deutschland gekommen.
Andere Länder fliegen ihre Staatsbürger und Diplomaten aus. Plant das Auswärtige Amt dies auch?
ROTH Selbstverständlich stehen wir in der Pflicht, unsere Landsleute zu schützen und das tun wir auch. Wir werden bis zum Ende des Monats ein bis zwei Charterflüge organisieren, um noch einmal eine größere Anzahl an Menschen nach Deutschland zu bringen.
Nun erobern die Taliban Ort für Ort. Ist nicht auch Deutschland mit seinem Engagement in Afghanistan gescheitert?
ROTH Wir sind nicht gescheitert, weil wir in den vergangenen Jahrzehnten durch unsere Präsenz auch viele Erfolge verzeichnen konnten. Insbesondere für Frauen und Mädchen, für den Zugang zur Bildung und zum Gesundheitswesen. Aber es zeigt sich, dass Aufbau und Sicherheit auch einen militärischen Schutz benötigen.
Aber dieser Schutz ist jetzt abgezogen. Braucht es einen neuen Afghanistan-Einsatz?
ROTH Wir haben gemeinsam mit unseren internationalen Partnern entschieden, den Einsatz zu beenden. Ich darf mal daran erinnern: Wir haben nicht nur in den USA eine gewisse Müdigkeit hinsichtlich des Einsatzes gehabt, sondern auch in der EU und in Deutschland. Die Kritik an dem Einsatz wurde immer lauter und schärfer. Deswegen hat US-Präsident Biden die Politik seines Vorgängers fortgeführt. Wahr ist aber auch: Der Rückzug hat zu einer besorgniserregenden Lage geführt. Die afghanischen Militär- und Sicherheitskräfte scheinen auf die aktuelle Situation nicht gut vorbereitet.
Üben Sie Kritik an der Bundeswehr, die primär für die Ausbildung der Sicherheitskräfte zuständig war?
ROTH Das ist eine nüchterne Bilanzierung. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind derzeit noch nicht in der Lage, ihr eigenes Volk gegen Terroristen zu verteidigen. So ist die Lage.
Was muss jetzt getan werden?
ROTH Erst mal müssen die Waffen schweigen. Wir müssen weiterhin in großer Geschlossenheit der EU und der internationalen Gemeinschaft darauf drängen, dass es zu einem politischen Dialog kommt. Auch da möchte ich daran erinnern, dass es in Deutschland vor einigen Jahren große Kritik gegeben hat, die Taliban in einen solchen Prozess einzubinden. Allein schon wegen der militärischen Präsenz und der politischen Macht werden wir darauf aber nicht verzichten können.
Das scheint derzeit aber unwahrscheinlich. Rechnen Sie mit einer neuen Flüchtlingswelle in die EU?
ROTH Die Zahl der Geflüchteten hat bereits dramatisch zugenommen. Es gibt derzeit 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge, 400 000 allein in diesem Jahr. Der Druck wird auch auf die Türkei, Iran und Pakistan massiv steigen. Ich bin mir sicher, dass der Migrationsdruck auf die EU und Deutschland aber auch zunehmen wird. Umso wichtiger ist es, dass wir das EU-Abkommen mit der Türkei zur Unterstützung der Geflüchteten vor Ort schnell umsetzen.