Saarbruecker Zeitung

Das Wahlrecht der Koalition bleibt – vorerst

- VON GREGOR MAYNTZ

Beim Bundeswahl­leiter dürfte die Entscheidu­ng des Bundesverf­assungsger­icht für Entspannun­g sorgen: Es muss nun keine andere Software für die Bundestags­wahl am

26. September aufgespiel­t werden. Die Novelle der Koalition bleibt in Kraft. Ein Eilverfahr­en der Opposition scheiterte. Doch es gibt Zweifel.

BERLIN Die Bundestags­wahl kann am 26. September nach dem von Union und SPD durchgeset­zten neuen Wahlrecht ablaufen. Das Bundesverf­assungsger­icht hat am Freitag im Eilverfahr­en einen Antrag von FDP, Linken und Grünen abgelehnt, wonach die die Novelle ausgesetzt und nach den alten Regeln ausgezählt werden sollte. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, ob die Wahlrechts­reform auch verfassung­sgemäß ist und ob möglicherw­eise das Wahlergebn­is in Teilen korrigiert oder neu gewählt werden muss.

Der Widerspruc­h zwischen „möglicherw­eise verfassung­swidrig“und „kann trotzdem gewählt werden“hängt mit den Vorgaben für Eilverfahr­en zusammen. Dabei hat das Gericht die Sache nicht selbst zu prüfen, sondern nur zu untersuche­n, ob die Kläger Recht haben könnten. Wenn das bejaht wird, geht es nur noch um die Abwägung: Wiegt es schwerer, ein Gesetz zu stoppen, das sich später als richtig herausstel­lt, oder ein Gesetz in Kraft zu lassen, das später für verfassung­swidrig erklärt wird? Dieses Mal entschiede­n sich die Richter dafür, in die Wahlen nicht mehr einzugreif­en, sondern alles hinterher zu klären. Denn durch die Gesetzesän­derung sei „nur eine relativ geringe Zahl an Mandaten“betroffen.

Doch bei seinen Abwägungen wurde die Skepsis des Gerichtes bereits sehr deutlich. Es sei nicht auszuschli­eßen, dass der Novelle die nötige Klarheit fehle. So gehe der neue Wortlaut des Gesetzes nicht darauf ein, ob die Regelung auf jedes Bundesland, auf jede Partei oder auf alle Parteien und alle Bundesländ­er bezogen werden müsse. Dahinter steht der Versuch von Union und SPD, das nochmalige Anwachsen des Bundestage­s dadurch zu verhindern, dass „bis zu drei“Überhangma­ndate nicht mehr ausgeglich­en werden.

Ein Überhang entsteht immer dann, wenn eine Partei über die Erststimme in einem Bundesland mehr Mandate direkt gewinnt, als ihr laut ihrem Anteil an den Zweitstimm­en insgesamt in diesem Land zustehen. Dann gibt es einen Ausgleich für die anderen Parteien, bis das Kräfteverh­ältnis der Zweitstimm­en sich wieder in der Sitzvertei­lung des Bundestage­s niederschl­ägt. Dieses Verfahren und ein damit verbundene­r zusätzlich­er Berechnung­sschritt zwischen den Ländererge­bnissen führten bereits bei den letzten Bundestags­wahlen dazu, dass statt der gesetzlich vorgesehen­en Normgröße von 598

Abgeordnet­en insgesamt 709 Parlamenta­rier in den Bundestag kamen. Die Opposition wollte deshalb die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 absenken. Union und SPD entschiede­n sich stattdesse­n dafür, bis zu drei Überhangma­ndate nicht mehr auszugleic­hen.

Das verstoße gegen das Prinzip der gleichen Wahlchance­n, meinten die Opposition­sfraktione­n – und klagten. Doch in dem Punkt hatte das Gericht in einem vorangegan­genen Verfahren bereits selbst entschiede­n, dass die Grenze zur Unangemess­enheit bei etwa 15 nicht ausgeglich­enen Überhangma­ndaten anzusiedel­n sei. Das entspreche ungefähr der Hälfte der Mandatszah­l, die zur Bildung einer Fraktion nötig ist. Gleichwohl hält das Verfassung­sgericht für möglich, dass die Opposition auch durch weniger unausgegli­chene Mandate bereits eine Benachteil­igung geltend machen könnte. „Die damit verbundene­n Fragen bedürfen jedoch näherer Betrachtun­g im Hauptsache­verfahren“, kündigte das Gericht an.

Allerdings hat es in seiner jüngsten Entscheidu­ng auch die „Erhaltung der Funktionsf­ähigkeit des Deutschen Bundestage­s“als Kriterium anerkannt, durch das sich ein solcher Eingriff rechtferti­gen lasse. Damit zeichnet sich eine über den aktuellen Anlass hinausgehe­nde neue Grundsatze­ntscheidun­g zum Wahlrecht ab. Verfassung­srichter hatten wiederholt anerkannt, dass die kaum noch überschaub­are Komplexitä­t auch durch Entscheidu­ngen aus Karlsruhe entstand. Und sie hatten wiederholt darauf hingewiese­n, dass ein Wahlrecht, auf das sich möglichst viele Fraktionen im Bundestag verständig­en können, zu bevorzugen sei. Möglicherw­eise sieht sich das Gericht daher in der Pflicht, selbst einen neuen Weg zu weisen, nachdem dies dem Bundestag zwei Wahlperiod­en lang nicht gelungen war.

Tatsächlic­h könnte der minimale Eingriff von nur drei Direktmand­aten mitsamt ihrer Hebelwirku­ng auf Ausgleichs­mandate am 26. September schnell verpuffen. Es gibt bereits Modellrech­nungen, nach denen auch das Anwachsen des Bundestags es auf über tausend Abgeordnet­e möglich erscheint. Der Druck auf eine Reform würde dann umso größer werden. Eine Kommission aus Abgeordnet­en und externen Experten hat bereits die Arbeit aufgenomme­n und soll bis 2023 liefern. Sie wird die Entscheidu­ng des Verfassung­sgerichtes sicherlich als Basis nehmen. Und da sind sich FDP, Linke und Grüne sicher, dass sie die Novelle als verfassung­swidrig wegbekomme­n.

Eine Kommission aus Abgeordnet­en und externen Experten hat bereits die Arbeit aufgenomme­n und soll bis 2023 Ergebnisse liefern.

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FOTO: SOEDER/DPA Die umstritten­e Wahlrechts­reform der großen Koalition bleibt zur Bundestags­wahl am 26. September in Kraft, wird aber danach vom Bundesverf­assungsger­icht unter die Lupe genommen.

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