Das Wahlrecht der Koalition bleibt – vorerst
Beim Bundeswahlleiter dürfte die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht für Entspannung sorgen: Es muss nun keine andere Software für die Bundestagswahl am
26. September aufgespielt werden. Die Novelle der Koalition bleibt in Kraft. Ein Eilverfahren der Opposition scheiterte. Doch es gibt Zweifel.
BERLIN Die Bundestagswahl kann am 26. September nach dem von Union und SPD durchgesetzten neuen Wahlrecht ablaufen. Das Bundesverfassungsgericht hat am Freitag im Eilverfahren einen Antrag von FDP, Linken und Grünen abgelehnt, wonach die die Novelle ausgesetzt und nach den alten Regeln ausgezählt werden sollte. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, ob die Wahlrechtsreform auch verfassungsgemäß ist und ob möglicherweise das Wahlergebnis in Teilen korrigiert oder neu gewählt werden muss.
Der Widerspruch zwischen „möglicherweise verfassungswidrig“und „kann trotzdem gewählt werden“hängt mit den Vorgaben für Eilverfahren zusammen. Dabei hat das Gericht die Sache nicht selbst zu prüfen, sondern nur zu untersuchen, ob die Kläger Recht haben könnten. Wenn das bejaht wird, geht es nur noch um die Abwägung: Wiegt es schwerer, ein Gesetz zu stoppen, das sich später als richtig herausstellt, oder ein Gesetz in Kraft zu lassen, das später für verfassungswidrig erklärt wird? Dieses Mal entschieden sich die Richter dafür, in die Wahlen nicht mehr einzugreifen, sondern alles hinterher zu klären. Denn durch die Gesetzesänderung sei „nur eine relativ geringe Zahl an Mandaten“betroffen.
Doch bei seinen Abwägungen wurde die Skepsis des Gerichtes bereits sehr deutlich. Es sei nicht auszuschließen, dass der Novelle die nötige Klarheit fehle. So gehe der neue Wortlaut des Gesetzes nicht darauf ein, ob die Regelung auf jedes Bundesland, auf jede Partei oder auf alle Parteien und alle Bundesländer bezogen werden müsse. Dahinter steht der Versuch von Union und SPD, das nochmalige Anwachsen des Bundestages dadurch zu verhindern, dass „bis zu drei“Überhangmandate nicht mehr ausgeglichen werden.
Ein Überhang entsteht immer dann, wenn eine Partei über die Erststimme in einem Bundesland mehr Mandate direkt gewinnt, als ihr laut ihrem Anteil an den Zweitstimmen insgesamt in diesem Land zustehen. Dann gibt es einen Ausgleich für die anderen Parteien, bis das Kräfteverhältnis der Zweitstimmen sich wieder in der Sitzverteilung des Bundestages niederschlägt. Dieses Verfahren und ein damit verbundener zusätzlicher Berechnungsschritt zwischen den Länderergebnissen führten bereits bei den letzten Bundestagswahlen dazu, dass statt der gesetzlich vorgesehenen Normgröße von 598
Abgeordneten insgesamt 709 Parlamentarier in den Bundestag kamen. Die Opposition wollte deshalb die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 absenken. Union und SPD entschieden sich stattdessen dafür, bis zu drei Überhangmandate nicht mehr auszugleichen.
Das verstoße gegen das Prinzip der gleichen Wahlchancen, meinten die Oppositionsfraktionen – und klagten. Doch in dem Punkt hatte das Gericht in einem vorangegangenen Verfahren bereits selbst entschieden, dass die Grenze zur Unangemessenheit bei etwa 15 nicht ausgeglichenen Überhangmandaten anzusiedeln sei. Das entspreche ungefähr der Hälfte der Mandatszahl, die zur Bildung einer Fraktion nötig ist. Gleichwohl hält das Verfassungsgericht für möglich, dass die Opposition auch durch weniger unausgeglichene Mandate bereits eine Benachteiligung geltend machen könnte. „Die damit verbundenen Fragen bedürfen jedoch näherer Betrachtung im Hauptsacheverfahren“, kündigte das Gericht an.
Allerdings hat es in seiner jüngsten Entscheidung auch die „Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages“als Kriterium anerkannt, durch das sich ein solcher Eingriff rechtfertigen lasse. Damit zeichnet sich eine über den aktuellen Anlass hinausgehende neue Grundsatzentscheidung zum Wahlrecht ab. Verfassungsrichter hatten wiederholt anerkannt, dass die kaum noch überschaubare Komplexität auch durch Entscheidungen aus Karlsruhe entstand. Und sie hatten wiederholt darauf hingewiesen, dass ein Wahlrecht, auf das sich möglichst viele Fraktionen im Bundestag verständigen können, zu bevorzugen sei. Möglicherweise sieht sich das Gericht daher in der Pflicht, selbst einen neuen Weg zu weisen, nachdem dies dem Bundestag zwei Wahlperioden lang nicht gelungen war.
Tatsächlich könnte der minimale Eingriff von nur drei Direktmandaten mitsamt ihrer Hebelwirkung auf Ausgleichsmandate am 26. September schnell verpuffen. Es gibt bereits Modellrechnungen, nach denen auch das Anwachsen des Bundestags es auf über tausend Abgeordnete möglich erscheint. Der Druck auf eine Reform würde dann umso größer werden. Eine Kommission aus Abgeordneten und externen Experten hat bereits die Arbeit aufgenommen und soll bis 2023 liefern. Sie wird die Entscheidung des Verfassungsgerichtes sicherlich als Basis nehmen. Und da sind sich FDP, Linke und Grüne sicher, dass sie die Novelle als verfassungswidrig wegbekommen.
Eine Kommission aus Abgeordneten und externen Experten hat bereits die Arbeit aufgenommen und soll bis 2023 Ergebnisse liefern.