Tropensturm wütet nach Erdbeben in Haiti
Nur vier Tage nach dem schweren Beben mit mehr als 1400 Toten drohen dem Karibikstaat Überschwemmungen und Erdrutsche durch das Sturmtief „Grace“. Ausgerechnet in der Erdbebenregion fällt starker Regen und trifft Schutzsuchende.
Nachdem das Erdbeben am Samstag im Süden Haitis 1419 Todesopfer forderte, hat Tropensturm „Grace“die Region nun erneut hart getroffen. Zehntausende obdachlos gewordene Menschen suchten Schutz vor starken Regenfällen.
LES CAYES (dpa) Nach dem schweren Erdbeben ist ein Sturm mit starkem Regen über das betroffene Gebiet im Süden Haitis hinweggefegt. „Grace“erstarkte in der Nacht zum Dienstag (Ortszeit) laut US-Hurrikanzentrum von einem Tiefdruckgebiet zu einem Tropensturm und zog mit anhaltenden Windgeschwindigkeiten um die 65 Stundenkilometer über den Süden der Insel Hispaniola hinweg, auf der Haiti und die Dominikanische Republik liegen. Videos in sozialen Medien zeigten überschwemmte Straßen.
Auf der vom Erdbeben am Samstag schwer getroffenen Halbinsel Tiburon, wo Zehntausende Menschen obdachlos geworden waren, stand das Wasser stellenweise knöchelhoch, wie auf Bildern zu sehen war. Die Bewohner der Gegend, von denen viele bisher im Freien schliefen, suchten etwa in Zelten und unter Planen notdürftig Schutz.
In dem vom Erdbeben beschädigten allgemeinen Krankenhaus von Les Cayes – mit einer Bevölkerung von etwa 90 000 Menschen die größte Stadt im betroffenen Gebiet – waren Patienten zunächst im Innenhof untergebracht worden. Wegen des Regens wurden sie aber hineingebracht, wie der Journalist Frantz Duval auf Twitter berichtete. „Das Dilemma an diesem Morgen: der Schlamm im Freien oder das rissige Gebäude – wo ist man besser geschützt“, schrieb er.
Die Zahl der bestätigten Todesopfer des Erdbebens der Stärke 7,2 stieg mittlerweile auf 1419, wie die Zivilschutzbehörde am Montag mitgeteilt hatte. Rund 6900 Menschen wurden bei der Katastrophe verletzt – und viele werden noch in den Trümmern der zerstörten Gebäude im Süden des Landes vermutet. Das Beben hatte sich am Samstagmorgen (Ortszeit) nahe der Gemeinde Saint-Louis-du-Sud östlich von Les Cayes in einer Tiefe von rund zehn Kilometern ereignet. Mindestens 13 700 Häuser wurden nach Angaben der Zivilschutzbehörde zerstört, ebenso viele beschädigt. Mehr als 30 000 Familien seien betroffen. Laut Caritas International werden vor allem Nahrung, Trinkwasser, Zelte und medizinische Erstversorgung benötigt. Die haitianische Menschenrechtsorganisation RNDDH kritisierte den Umgang der Regierung mit der Katastrophe als „totales Chaos“. „Sie sind völlig sich selbst überlassen“, hieß es hinsichtlich der Erdbebenopfer. Einige suchten auf eigene Faust nach Zelten zum Schutz vor dem Unwetter. Vor personell unterbesetzten und schlecht ausgestatteten Krankenhäusern warteten verzweifelte Verletzte.
Interims-Premierminister Ariel Henry kündigte bei Twitter schnellere Arbeit an. „Wir werden unsere Energien verzehnfachen, um die größtmögliche Zahl von Opfern zu erreichen und ihnen zu helfen“, schrieb er. Für eine bessere Koordination der Maßnahmen werde die Präsenz der Regierung vor Ort erhöht. Henry ordnete auch drei Tage Staatstrauer in dem leidgeplagten Land an. Sorgen bereitete außerdem, dass durch Bandengewalt die Fernstraße, die die Hauptstadt Portau-Prince mit Haitis Süden verbindet, häufig unpassierbar wird – das könnte die Lieferung von Hilfsgütern erschweren. Banden kämpfen miteinander um Kontrolle über Gebiete in Port-au-Prince. Die Gewalt trieb allein im Juni nach UN-Zahlen rund 15 000 Menschen in die Flucht.
Die EU-Kommission hat angekündigt, Haiti nach dem verheerenden Erdbeben vom Samstag mit zunächst drei Millionen Euro zu unterstützen. Das Geld solle etwa für medizinische Versorgung vor Ort, für Wasser-, Abwasser- und Hygienedienste sowie für Unterkünfte und Schutzmaßnahmen für die am stärksten betroffenen und benachteiligten Gemeinschaften eingesetzt werden, teilte die EU-Kommission am Dienstag mit. „Wir sind bereit, weitere Unterstützung zu leisten“, versicherte EU-Kommissar Janez Lenarcic.
Haiti war trotz dem verheerenden Erdbeben von 2010 mit mehr als 220 000 Toten schlecht auf die Katastrophe vorbereitet. Von dem Geld, das damals für den Wiederaufbau aus dem Ausland zugesagt worden war, sahen die meisten Haitianer wenig – ein großer Teil verschwand infolge von Verschwendung und Korruption. Das ohnehin schwer unterfinanzierte Gesundheitssystem ist durch die sich zuletzt verschlimmernde Pandemie überstrapaziert. Bis es Mitte Juli eine Spende aus den USA erhielt, hatte das Land als einziges in Amerika noch keinen Corona-Impfstoff. Auch hier spielt die Bandengewalt eine Rolle: Eine Notfallklinik von Ärzte ohne Grenzen in Port-au-Prince wurde geschlossen, weil auf sie geschossen worden war.