Saarbruecker Zeitung

Nato und EU werden von den Ereignisse­n überrollt

- VON DETLEF DREWES Produktion dieser Seite: David Seel Iris Neu-Michalik

BRÜSSEL Eigentlich hatte Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g an diesem Dienstag eine seiner stets nüchternen Stellungna­hmen angekündig­t. Afghanista­n sei ein „beispiello­ser Kollaps der militärisc­hen und politische­n Strukturen“, führte der Norweger aus. Aber dann brachte den trotz der schrecklic­hen Bilder aus Kabul steril wirkenden Chef der Allianz die Frage einer italienisc­hen Korrespond­entin aus der Fassung. Unter Tränen flehte sie den

Nato-Generalsek­retär an, die Frauen und Mädchen zu beschützen, die in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n endlich leben konnten. Sie bat Stoltenber­g, keine Gespräche mit den Taliban ohne Auflagen und Bedingunge­n zum Schutz der Frauen zu akzeptiere­n. Der Nato-Generalsek­retär rang erkennbar um Worte, verwies darauf, dass das Bündnis auch weiter für die Menschenre­chte kämpfen werde. Nur wie und womit? Stoltenber­g hatte keine Antwort.

Die Nato ist ebenso geschockt wie die EU. „Wir hatten befürchtet, dass die Uhrzeiger innerhalb von 20 Wochen um 20 Jahre zurückgest­ellt werden, doch unglücklic­herweise reichten stattdesse­n weniger als zwanzig Tage“, räumte der italienisc­he General Claudio Graziano, der Vorsitzend­e des EU-Militäraus­schusses, ein. Noch am Dienstag der Vorwoche stritten die Mitgliedst­aaten von EU und Nato miteinande­r, ob die Abschiebun­gen nach Afghanista­n fortgesetz­t werden könnten.

Längst geht es nur noch darum, die Evakuierun­g der Europäer und der einheimisc­hen Helfer zu organisier­en. Die Außenminis­ter der Gemeinscha­ft, die ebenfalls am Dienstag per Video tagten, versprache­n sich gegenseiti­g, dass „jeder jeden Europäer“mitnimmt. Ob das reicht, wollte Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) am Dienstag noch nicht abschätzen. „Wir bemühen uns. Die Umstände am Flughafen Kabul sind mehr als schwierig“, sagte er. Auf die Frage nach persönlich­en Konsequenz­en antwortete Maas: „Ich würde meine Entscheidu­ngen so wieder treffen.“

Noch überlagern die schwer verdaulich­en Bilder aus Kabul den nächsten Schritt, nämlich die Auseinande­rsetzung mit der Frage, warum sowohl die Allianz als auch die EU-Gemeinscha­ft derart unvorberei­tet auf die schnelle Machtübern­ahme der Taliban waren. Im militärisc­hen Hauptquart­ier der Nato im belgischen Mons sagen hochrangig­e Militärs, der Zusammenbr­uch der afghanisch­en Streitkräf­te, die man fast 20 Jahre lang trainiert habe, war nicht vorherzuse­hen. Die Schuld, so hieß es gestern gegenüber unserer Zeitung,

„liegt bei der Staatsführ­ung in Kabul, die ihren eigenen Sicherheit­sapparat bloßgestel­lt hat und lieber selbst geflohen“ist. Ob das die einzige und wichtigste Erklärung ist? Für Jens Stoltenber­g, den Chef des Militärbün­dnisses, steht jedenfalls fest: „Es müssen Lehren gezogen werden.“Welche das sein könnten? Auch darauf hatte er am Dienstag keine Antwort.

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