Nato und EU werden von den Ereignissen überrollt
BRÜSSEL Eigentlich hatte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg an diesem Dienstag eine seiner stets nüchternen Stellungnahmen angekündigt. Afghanistan sei ein „beispielloser Kollaps der militärischen und politischen Strukturen“, führte der Norweger aus. Aber dann brachte den trotz der schrecklichen Bilder aus Kabul steril wirkenden Chef der Allianz die Frage einer italienischen Korrespondentin aus der Fassung. Unter Tränen flehte sie den
Nato-Generalsekretär an, die Frauen und Mädchen zu beschützen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten endlich leben konnten. Sie bat Stoltenberg, keine Gespräche mit den Taliban ohne Auflagen und Bedingungen zum Schutz der Frauen zu akzeptieren. Der Nato-Generalsekretär rang erkennbar um Worte, verwies darauf, dass das Bündnis auch weiter für die Menschenrechte kämpfen werde. Nur wie und womit? Stoltenberg hatte keine Antwort.
Die Nato ist ebenso geschockt wie die EU. „Wir hatten befürchtet, dass die Uhrzeiger innerhalb von 20 Wochen um 20 Jahre zurückgestellt werden, doch unglücklicherweise reichten stattdessen weniger als zwanzig Tage“, räumte der italienische General Claudio Graziano, der Vorsitzende des EU-Militärausschusses, ein. Noch am Dienstag der Vorwoche stritten die Mitgliedstaaten von EU und Nato miteinander, ob die Abschiebungen nach Afghanistan fortgesetzt werden könnten.
Längst geht es nur noch darum, die Evakuierung der Europäer und der einheimischen Helfer zu organisieren. Die Außenminister der Gemeinschaft, die ebenfalls am Dienstag per Video tagten, versprachen sich gegenseitig, dass „jeder jeden Europäer“mitnimmt. Ob das reicht, wollte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) am Dienstag noch nicht abschätzen. „Wir bemühen uns. Die Umstände am Flughafen Kabul sind mehr als schwierig“, sagte er. Auf die Frage nach persönlichen Konsequenzen antwortete Maas: „Ich würde meine Entscheidungen so wieder treffen.“
Noch überlagern die schwer verdaulichen Bilder aus Kabul den nächsten Schritt, nämlich die Auseinandersetzung mit der Frage, warum sowohl die Allianz als auch die EU-Gemeinschaft derart unvorbereitet auf die schnelle Machtübernahme der Taliban waren. Im militärischen Hauptquartier der Nato im belgischen Mons sagen hochrangige Militärs, der Zusammenbruch der afghanischen Streitkräfte, die man fast 20 Jahre lang trainiert habe, war nicht vorherzusehen. Die Schuld, so hieß es gestern gegenüber unserer Zeitung,
„liegt bei der Staatsführung in Kabul, die ihren eigenen Sicherheitsapparat bloßgestellt hat und lieber selbst geflohen“ist. Ob das die einzige und wichtigste Erklärung ist? Für Jens Stoltenberg, den Chef des Militärbündnisses, steht jedenfalls fest: „Es müssen Lehren gezogen werden.“Welche das sein könnten? Auch darauf hatte er am Dienstag keine Antwort.