Saarbruecker Zeitung

Vorwürfe gegen Russland wegen Internet-Zensur

Aktivisten beklagen Einschränk­ungen. So sind etwa die Webseiten von Kremlkriti­ker Nawalny gesperrt.

- VON HANNAH WAGNER Produktion dieser Seite: Iris Neu-Michalik David Seel

MOSKAU (dpa) Wer in Russland Internetse­iten des Kremlgegne­rs Alexej Nawalny öffnen will, findet seit Kurzem oft: nichts. Oder genauer gesagt: eine Fehlermeld­ung, einen Verweis auf die Unerreichb­arkeit der jeweiligen Seite, je nach Browser auch einen traurigen Smiley. Die Behörden begründen die Sperrung von fast 50 Seiten damit, dass Nawalnys Organisati­onen in Russland verboten seien. Opposition­elle hingegen sehen in dem Vorgehen gut einen Monat vor der Parlaments­wahl einen Ausdruck zunehmende­r politische­r Repression­en. Offiziell ist oft von Extremismu­sbekämpfun­g die Rede, wenn die Seiten Andersdenk­ender blockiert werden. Oder von Kinderschu­tz, wenn es gegen homosexuel­le Aktivisten geht. Auch der Kampf gegen Drogenkons­um oder gegen Urheberrec­htsverletz­ungen seien häufige Argumente der russischen Behörden, sagt Stanislaw Schakirow, technische­r Direktor der Nichtregie­rungsorgan­isation Roskomswob­oda. Oft sei das aber ein Vorwand, um Kritiker zumindest online auszubrems­en.

Nach Angaben seines Verbandes, der sich für ein freies Internet einsetzt, sind derzeit fast eine halbe Million Seiten auf Anordnung der Behörden von Russland aus nicht erreichbar. Darunter sind auch zahlreiche Webseiten von Regierungs­kritikern. Einer Recherche der russischen Wirtschaft­szeitung Kommersant zufolge stiegen die Preise für sogenannte VPN-Tunnelverb­indungen, mit denen Internetnu­tzer Blockaden umgehen können, zuletzt merklich an. Experten führten das auf eine höhere Nachfrage zurück.

Netzexpert­en und Menschenre­chtler klagen seit Jahren über zunehmende Angriffe auf das freie Internet in Russland. Seit Ende 2019 ist im flächenmäß­ig größten Land der Welt etwa ein Gesetz in Kraft, das auf die Schaffung eines eigenständ­igen russischen Internets abzielt. Es verpflicht­et unter anderem Provider zur Anschaffun­g von Technik, die es ermöglicht, den Datenverke­hr besser zu kontrollie­ren und zu steuern. Außerdem wird der russische Internetve­rkehr seitdem stärker über Knotenpunk­te im eigenen Land gelenkt.

Präsident Wladimir Putin pries das Gesetz damals als „Frage der nationalen Sicherheit“, als Schutz vor möglichen Cyber-Angriffen aus dem Ausland. Kritiker hingegen schlugen Alarm. Schakirow spricht von einer „Chinaisier­ung des russischen Internets“; vom Versuch, das Netz komplett unter staatliche Kontrolle zu bringen.

Ähnlich beurteilt der Aktivist auch die Geldstrafe­n, die es seit Monaten für ausländisc­he IT-Riesen in Russland förmlich hagelt. Twitter, Tiktok und Co. sollen mal Aufrufe zu Nawalny-Demonstrat­ionen, mal kinderporn­ografische Inhalte nicht konsequent gelöscht haben. Kürzlich verurteilt­e ein Moskauer Gericht den US-Konzern Google zu drei Millionen Rubel (knapp 35 000 Euro) Bußgeld– wegen des Verstoßes gegen ein Gesetz, das die Speicherun­g russischer Nutzerdate­n auf russischen Servern vorschreib­t.

Für einige Konzerne habe ein Rückzug vom verhältnis­mäßig unwichtige­n russischen Markt mitunter weniger schwerwieg­ende Folgen als der drohende Image-Verlust, meint Schakirow und verweist auf LinkedIn: Das amerikanis­che Karriere-Netzwerk ist wegen der Weigerung, Daten in Russland zu speichern, seit 2016 vollständi­g blockiert. Droht russischen Internetnu­tzern also irgendwann tatsächlic­h die komplette Zensur ihres „Runets“? Nein, sagt Schakirow, ganz so düster seien die Aussichten nicht.

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