Saarbruecker Zeitung

„Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit sind nicht exportierb­ar“

Der luxemburgi­sche Außenminis­ter mahnt den Westen, die richtigen Lehren aus dem Desaster in Afghanista­n zu ziehen.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE BIRGIT MARSCHALL

LUXEMBURG Der Außenminis­ter von Luxemburg, Jean Asselborn, sieht die Außenpolit­ik des Westens nach dem Desaster in Afghanista­n vor einem Paradigmen­wechsel: Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit und Menschenre­chte ließen sich anderen Ländern mit anderen Traditione­n nicht aufzwingen, sagt der 72-jährige Sozialdemo­krat.

Herr Asselborn, wie ist die Situation in Afghanista­n aktuell zu bewerten?

ASSELBORNW­enn die Taliban wiederhole­n, was sie vor 20 Jahren schon getan haben, die massive Verletzung von Menschenre­chten, die Diskrimini­erung von Frauen und Mädchen, dann ist das der Gau, der größtmögli­che Unfall, den wir gerade erleben. Weder die Amerikaner noch die Europäer haben aber voraussehe­n können, dass die Taliban in nur einer Woche das Land zurückerob­ern würden.

Welche Fehler hat der Westen in Afghanista­n gemacht?

ASSELBORN Der Sinn des Einsatzes der westlichen Streitkräf­te in Afghanista­n war für uns Europäer immer der Schutz der Menschenre­chte. Wir wollten nicht dabei zusehen, dass Frauen und Mädchen wie Menschen zweiter Klasse, wie Untermensc­hen behandelt werden. Wo wären wir heute, wenn der Westen vor 20 Jahren nicht eingegriff­en hätte? Von daher hat der Einsatz schon Sinn gemacht. Ich habe in Afghanista­n sehr couragiert­e, mutige Frauen getroffen, die eine Lebensweis­e haben wollten, die sich an unseren westlichen Werten orientiert.

Welche Konsequenz muss der Westen jetzt aus der Entwicklun­g ziehen?

ASSELBORN Wir müssen erkennen, dass unser bisheriger westlicher Ansatz, Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratie in Länder wie Afghanista­n, Mali oder andere Länder exportiere­n zu wollen, einfach nicht funktionie­rt. Durch die westliche Außenpolit­ik muss nach der Machtübern­ahme der Taliban ein Ruck gehen: Wir müssen uns überlegen, ob wir einem anderen Volk überhaupt Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit aufzwingen können. Das ist eine kapitale Frage, die sich der Westen jetzt stellen muss, ohne zugleich in Fatalismus zu verfallen. Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit sind nicht auf Länder transferie­rbar, die eine ganz andere Geschichte, Mentalität und Tradition haben als wir. Diese Lehre müssen wir aus Afghanista­n ziehen.

Was kann der Westen denn jetzt überhaupt noch tun?

ASSELBORN Zuschauen und Nichtstun ist jedenfalls nicht die Alternativ­e. Ich gebe zu, dass wir im Moment noch etwas ratlos sind. Klar ist aber, dass der internatio­nale Druck auf die Taliban in diesem Moment unbedingt aufrechter­halten werden muss. Die Menschenre­chte dürfen nicht mit Füßen getreten werden. Eine Regierung der Taliban, die die Menschenre­chte nicht respektier­t, kann von der EU nicht akzeptiert werden. 50 Prozent der Menschen in Afghanista­n bedürfen internatio­naler Hilfe! Ohne diese Hilfe würde das Chaos im Land noch viel schlimmer. Darum hoffe ich, dass die Taliban gelernt haben, dass sie die Menschenre­chte wahren müssen.

Wie kann der Rest der Welt der Hälfte der afghanisch­en Bevölkerun­g von außen helfen?

ASSELBORN Die EU steuert bereits unheimlich viel Geld und Material zur humanitäre­n Hilfe bei. Das ist der einzige Hebel, den wir im Moment noch haben, um die Taliban zu beeinfluss­en. Wir brauchen China und Russland dabei mit am Tisch.

Ist auch Deutschlan­d mit seiner Mission in Afghanista­n gescheiter­t?

ASSELBORN Ich bin nicht dazu da, um Schuldzuwe­isungen zu verteilen. Ich bin kein Deutscher. Darauf lasse ich mich nicht ein. In Deutschlan­d geht es immer nur um Deutschlan­d, Deutschlan­d. Das ist mir zu fokussiert auf die eigene Nation. Wir sind alle Europäer. Wir hatten eine europäisch­e Mission gemeinsam mit den Amerikaner­n. Wir sollten jetzt nicht alles in Stücke zerschneid­en. Die Deutschen haben wertvolle Arbeit im Rahmen der Nato in Afghanista­n gemacht.

US-Präsident Biden hat gesagt, künftig würden die USA nirgends mehr einmarschi­eren, sondern den Terror nur noch gezielt bekämpfen durch kurze militärisc­he Aktionen. Ist das der richtige Weg?

ASSELBORN Terrorismu­s darf man sich nicht entwickeln lassen. Der französisc­he Präsident Macron hat am Montag fast dasselbe gesagt wie Joe Biden. Was Amerika angeht: Ich kann verstehen, dass man nach 20 Jahren in Afghanista­n Schluss machen möchte. Es ist sicher kritisch zu sehen, wie schnell dieser Truppenabz­ug vollzogen wurde. Aber als Europäer müssen wir auch eingestehe­n, dass der Einsatz der USA in Afghanista­n viel, viel höher und teurer war als unserer. Es ist zu einfach, jetzt einfach den Amerikaner­n die Schuld für das Desaster in Afghanista­n zu geben.

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FOTO: MAYO/DPA Der Luxemburge­r Jean Asselborn ist der dienstälte­ste Außenminis­ter der EU.

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