Kämpfer für Rechte von Schwulen und Lesben
Vor 50 Jahren hat ein 18-jähriger Mann eine Film-Premiere in der Saarbrücker Camera genutzt, um erstmals Schwule zu organisieren. Jetzt steht Hasso Müller-Kittnau auf den Tag genau wieder im Kino – was bewegt ihn?
Für sein langjähriges Engagement für die Rechte von Schwulen und Lesben im Saarland erhält der Saarbrücker Hasso Müller-Kittnau das Bundesverdienstkreuz. Ein Film von Rosa von Praunheim spielte für ihn eine wichtige Rolle.
SAARBRÜCKEN 50 Jahre sind ein effektiver Filter für Erinnerungen. Heraus gesiebt wird meist nur noch ein Lebensgefühl. 1971, als 18-jähriger Schwuler in Saarbrücken, wie erlebte man das? Einsam. „Nichts gab es für uns, außer ganz wenige versteckte Szenekneipen. Einfach gar nichts“, sagt Hasso Müller-Kittnau (68). Damals lag das Outing dieses Pioniers der Lesben- und Schwulenbewegung im Saarland bereits zwei Jahre zurück, doch ein stabiles soziales Kontaktnetz unter Schwulen existierte nicht.
Immerhin kannte Müller-Kittnau Albrecht Stuby, den Leiter des Programmkinos Camera auf der Berliner Promenade, ebenfalls homosexuell, und er wusste von einer großen empirischen Studie des Frankfurter Sexualwissenschaftlers Martin Dannecker, die dann später, 1974, als Buch erschien: „Der gewöhnliche Homosexuelle.“Müller-Kittnau erzählt: „Ich fuhr nach
Frankfurt und holte die Fragebogen ab, die ich in Saarbrücken verteilen wollte. Damals erzählte mir Dannecker von einem Film, den er mit Rosa von Praunheim gemacht hatte – und gab mir das Textbuch mit.“Der Arbeitstitel: „Daniel und Clemens.“Wenige Monate später lief genau dieser Film auf der Berlinale, dann in deutschen Kinos, auch in der Camera in Saarbrücken, jedoch unter anderem Titel: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.“
Stuby hatte ihn in seine Reihe „Homosexualität im Film“aufgenommen, Müller-Kittnau verfasste das Programmheft, war für die Anmoderation und die anschließende Diskussion zuständig. Er witterte die Chance: „Ich wollte nicht wieder nur reden, ich wollte was Konkretes erreichen.“Er habe dann den Film, der sowieso bereits einen Appell-Grundton hatte, für einen Aufruf genutzt – „dass wir uns endlich organisieren und politisch artikulieren. Ich wollte im Kino schlicht Adressen sammeln.“Das klappte. „Es lag in der Luft, es war, als hätte die Zeit genau auf dieses Fanal gewartet“, so Müller-Kittnau.
Nicht nur in Saarbrücken, bundesweit, löste der von-PraunheimFilm dann tatsächlich eine Gründungswelle von Schwulen-Gruppen aus, gilt seitdem als Geburtsstunde der Schwulenbewegung. Müller-Kittnau nannte seine Gruppe 1971 „Homosexuelle Aktionsgruppe Saar“(HAS). Jetzt, zum 50. Jubiläum, blieb die Suche nach damaligen Mitstreitern erfolglos. Die meisten seien wohl gestorben, meint Müller-Kittnau. Deshalb ist er selbst neugierig, welche und wie viele Leute ihm diesmal bei der „Jubiläums“-Filmvorführung gegenüber sitzen werden. Auf den Tag genau am 3. September, nach 50 Jahren, wiederholt sich das Szenario mit ihm als Diskussions-Leiter.
Wer fand damals in die Camera?
Mutige Männer, in Begleitung – ihrer Angst. Müller-Kittnau berichtet von einem voll besetzen Saal. Als das Licht wieder anging, sei ein Großteil der Zuschauer bereits weg gewesen, durch die Hintertür: „Sie wollten schlicht nicht gesehen werden“, sagt er. Da sei mehr als Scham im Spiel gewesen, nämlich handfeste Befürchtungen vor Diskriminierung. Als der Film, der zum Politikum und Skandal geworden war, dann Anfang 1972 wieder in der
Camera lief, stand tatsächlich die Polizei vor der Tür und kontrollierte die Pässe. „Dabei hatte der Film gar keine Altersbegrenzung“, sagt Müller-Kittnau. Er selbst erhielt eine Vorladung: Ein Flugblatt mit der Einladung zur Filmvorführung war zufällig bei einem zehnjährigen Gymnasiasten gelandet.
Aufregende, aufgeregte Zeiten. Wobei Müller-Kittnau die heftigen Reaktionen der Schwulen auf den Film versteht. Heute noch empfindet er ihn als „bitterböse“. Denn die Botschaft lautet: Ihr Schwule seid an eurer Unterdrückung selbst schuld, ihr passt euch zu sehr den spießbürgerlichen Beziehungsmustern an. Von Praunheim idealisierte die Promiskuität und verspottete und verdammte die „Kitsch“-Ehe.
„Es herrschte Anfang der 70er Jahre allgemein der antibürgerliche, antikapitalistische Geist der 68er Bewegung“, meint Müller-Kittnau und zitiert das Motto: Wer dreimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment. Provokation und Rebellion waren chic. Das hat sich historisch überholt. Doch die Grundstruktur des Films bleibt für Müller-Kittnau aktuell. „Das eigene Lager kommt gar nicht gut weg“, sagt er. Das stoße womöglich auch heutzutage noch auf Widerstand in der LSBTI*Q-Community. Deshalb hält Müller-Kittnau den Film auch nicht für ein Ausstellungsstück in der Vitrine der Kinogeschichte, sondern hofft auch auf eine vitale Wirkung. Denn immer noch gibt es seiner Meinung nach viel zu tun für die Schwulen und Lesben. Zwar habe man in 50 Jahren Unvorstellbares erreicht – „Nie hätte ich gedacht, dass ich 2021 schon 20 Jahre verheiratet sein würde, geschweige denn, dass ich das Bundesverdienstkreuz bekommen könnte“–, aber in der Breite bemerkt Müller-Kittnau weiterhin einen ähnlich kampflosen Geist unter vielen Homosexuellen wie ihn von Praunheim einst anprangerte.
Müller-Kittnau versteht das Schweigen nicht auf die zunehmende Zahl an Übergriffen auf Homosexuelle. Oder er reibt sich an der Afghanistan-Berichterstattung, in der die Bedrohung für Frauen zu Recht thematisiert werde, während Homosexuelle gar nicht vorkämen und gesteinigt würden. Statt Alarmbereitschaft beobachtet Müller-Kittnau aber eher einen Rückzug aus der ehrenamtlichen Verbandsarbeit des LSVD: „Über 5000 Lesben und Schwule im Saarland sind verpartnert oder vehreiratet, aber keine fünf Prozent sind Mitglied im LSVD oder unterstützen den Förderkreis. Das macht mich sauer.“50 Jahre Engagement – und kein bisschen leise. Kompliment!
„Ich wollte nicht wieder nur reden, ich wollte was Konkretes erreichen.“
Hasso Müller-Kittnau über den Film von Rosa von Praunheim, als er in der Saarbrücker Camera lief.
„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“: 3. und 4. September, 20 Uhr, Kino 8 1/2, Nauwieserstraße 19, 66111 Saarbrücken.