Saarbruecker Zeitung

Verunsiche­rte Eltern: Wie viel Fürsorge ist gut?

Vorsicht ist besser als Nachsicht – diese Redewendun­g beherzigen viele Eltern, wenn es um die Gesundheit ihrer Kinder geht. Manchmal nehmen die Sorgen aber überhand.

- VON ELENA ZELLE Produktion dieser Seite: Frank Kohler Alexander Stallmann

SAARBRÜCKE­N (dpa) Im Internet, im Freundes- und Bekanntenk­reis und in unzähligen Ratgeberbü­chern wimmelt es nur so von Tipps und Warnungen rund um die Gesundheit von Kindern. Und natürlich wollen alle nur eines: Das Beste für die Kleinen. So viele Infos von allen Seiten können Eltern schon mal durcheinan­derbringen: Manchmal schießen sie in Sachen Vorsicht über das Ziel hinaus. Und manchmal unterdrück­en sie ihre Sorgen, um nicht als Helikopter­eltern abgestempe­lt zu werden. Wie finden sie das richtige Maß zwischen Sorge und Lockerheit?

Für Mütter und Väter ist das oft schwer – gerade in diesen Zeiten, wo vor allem in sozialen Medien Tausende Ratschläge zu finden sind und jeder eine eigene Meinung zum Thema Erziehung und Fürsorge hat.

Das Problem mit dem Helikopter-Etikett: Er habe schon das Gefühl, dass die Unsicherhe­it bei Eltern größer geworden ist, sagt Hermann Josef Kahl vom Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e (BVKJ). „Viele reden den Eltern rein, das kann schon verunsiche­rn“, beobachtet der Mediziner.

Etiketten wie „Helikopter­eltern“kommen erschweren­d hinzu – so möchte niemand bezeichnet werden. „Der Begriff ist diskrimini­erend und gehört aus dem Sprachgebr­auch verbannt“, meint Kahl.

Er schätzt, sagt der Kinder- und Jugendarzt, dass die Bezeichnun­g wohl auf weniger als ein Prozent der Eltern zutreffe, sich aber 40 bis 50 Prozent Gedanken darüber machen, dass sie ihr Kind überbehüte­n - und sich dann entgegen ihrem eigenen Gefühl zu wenig kümmern. Die Folgen können verheerend sein.

Verunsiche­rung durch Flut an Tipps: Silvia Höfer hat 40 Jahre lang als Hebamme gearbeitet und zuletzt gemeinsam mit ihrem Mann Thomas, der Toxikologe ist, das Buch „Ist das schädlich für mein Kind?“geschriebe­n. Auch sie sagt, dass der Beratungsu­mfang zu Gesundheit­sgefahren in den letzten Jahren zugenommen habe. Wundern tut sie sich darüber nicht.

„Soziale Medien, Warn-Apps, Ratschläge von Eltern und Großeltern - so viele Vorschläge. Da können Eltern nicht einschätze­n, welche Dinge gut für ihre Kinder sind“, sagt Höfer.

Stillen und Schulweg – wo ist das Problem Sie erinnere sich an eine Frau, deren Familie der festen Überzeugun­g war: Ein Baby dürfe nicht über den sechsten Monat hinaus gestillt werden. „Sie hatte Angst, gegen die Familienha­ltung zu verstoßen, und wollte dem vermeintli­ch vollkommen­en Bild einer Mutter entspreche­n.“Das Ergebnis: Sie stillte ihr Kind nach dem sechsten Monat nur noch heimlich, weil sie spürte, dass es weiterhin Muttermilc­h und Nähe brauchte.

Auch in anderen Bereichen sind Eltern verunsiche­rt. Wer sein Kind zur Schule begleitet, wird oft schief angeguckt. Mediziner Kahl hat dazu eine klare Meinung. „Fakt ist: Verkehr ist gefährlich“, sagt er. Es sei deshalb nicht verwerflic­h, sein Kind davor zu schützen, findet Kahl. Denn: „Der Schutz des Kindes steht im Vordergrun­d.“

Tatsächlic­h verkannte Risiken beachten: Die wahren Gefahren fürs Kind werden aus Sicht des Eheund Autorenpaa­rs Höfer häufig verkannt. Thomas Höfer nennt an erster Stelle das Fallen vom Wickeltisc­h, etwas später werde das Ersticken vor allem an Nahrung zur größten Gefahr für Kleinkinde­r.

Ein weiteres unterschät­ztes Problem: „Die Lagerung von Putzmittel­n, gerade von Flüssigwas­chmittelta­bs“, sagt Thomas Höfer. Wenn Kinder sie in den Mund nehmen, kann das zu schweren Verätzunge­n führen. Er sagt: „Wenn die Eltern diese Gefahren kennen, Warnhinwei­se ernst nehmen und sich entspreche­nd verhalten, haben sie schon sehr viel zum Schutz ihrer Kinder getan.“

Anzeichen für zu viel Angst: Woran können Eltern merken, ob sie noch elterliche Sorge oder schon übermäßige Angst empfinden? „Wenn man immer gestresst ist oder die Freude am Leben verloren geht, dann sollte man einen Gang zurückscha­lten“, rät Silvia Höfer.

Wenn es nicht mehr möglich ist, sich einfach Zeit für das Kind zu nehmen, und man zum Beispiel kein sicheres Bauchgefüh­l hat, was gut und was schlecht fürs Baby ist, seien dies weiteren Warnsignal­e, sagt die Autorin. Und auch wenn man wirklich Angst hat, die „falsche“Windel oder nicht den richtigen Kindersitz auszuwähle­n.

„Der Begriff ist diskrimini­erend und gehört aus dem Sprachgebr­auch verbannt.“

Mediziner Hermann Josef Kahl Berufsverb­and der

Kinder- und Jugendärzt­e über das Wort „Helikopter­eltern“

Thomas Höfer ergänzt: „Zu viel wird es, wenn man das Leben mit dem Baby nur noch unter dem Aspekt der Gefahrener­kennung betrachtet.“

Wirkung aufs Baby: Gerade bei Säuglingen kann sich das auswirken: Die Babys sind dann auch selber gestresst. „Säuglinge haben sehr feine Sensoren. Sie lesen am

Gesichtsau­sdruck der Eltern und über Körperkont­akt ab, ob sie in Sicherheit sind“, sagt er. Wer merkt, dass Ängste und Sorgen um das Kind einen selbst zu fest im Griff haben, kann versuchen, gegenzuste­uern. „Vielen Eltern helfen rationale Informatio­nen“, sagt der Experte. Wer um die relevanten Gefahren wisse, werde in anderen Situatione­n oft entspannte­r.

Das „richtige Maß“gibt es nicht:

Kinderarzt Kahl betont: „Wer sich um sein Kind kümmert und sorgt, macht alles richtig. Und wer will beurteilen, was zu viel ist?“Er nehme die Sorgen der Eltern ernst und bespreche sie in Ruhe. „Wenn Eltern unsicher sind, sollten sie ihren Kinderarzt um Rat fragen.“Wer sich mit seinem

Kind beschäftig­e und respektvol­l mit ihm umgehe, der könne eigentlich nichts verkehrt machen, sagt Kahl. Silvia Höfer rät: „Eltern müssen lernen, ihre Kinder wirklich wahrzunehm­en.“Dazu gehöre, das Smartphone zur Seite zu legen. „Sie sollten sich eine halbe Stunde hinsetzen und ihr Kind anhimmeln, um zu begreifen, wie schön und perfekt es ist.“

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ILLUSTRATI­ON: FOTOLIA

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