Saarbruecker Zeitung

Die Seenotrett­er in der Luft

Mit ihren beiden kleinen Flugzeugen sucht die Organisati­on Sea-Watch das Mittelmeer nach Menschen in Seenot ab. „ Moonbird“und „ Seabird“rufen in Notfällen um Hilfe – oft allerdings stoßen sie auf Schweigen.

- VON RENATA BRITO

LAMPEDUSA (ap) Dutzende Flüchtling­e sind auf dem leichten weißen Schlauchbo­ot unten im Mittelmeer zu sehen. Sie haben sich von der nordafrika­nischen Küste auf die lebensgefä­hrliche Fahrt gen Europa gemacht. Die Lage an diesem Oktobernac­hmittag ist bedrohlich: Ein Gewitterst­urm zieht auf.

Rund 300 Meter über den Wellen hat die Crew der „Seabird“das Boot erspäht. Im Flieger der deutschen Seenotrett­erorganisa­tion Sea-Watch funkt Koordinato­r Eike Bretschnei­der das einzige Schiff in Reichweite um Hilfe an. „Nour2, Nour 2, this is aircraft Seabird“, ruft er ins Mikrofon. Der Kapitän der „Nour 2“reagiert und ändert den Kurs in Richtung des überladene­n Schlauchbo­ots.

Doch als die Migrantinn­en und Migranten sehen, dass die „Nour 2“ unter libyscher Flagge fährt, wollen sie sich von der Mannschaft nicht helfen lassen, wie der Kapitän über Funk zurückmeld­et. „Sie sagen, dass sie nur noch 20 Liter Treibstoff haben“, berichtet der Mann an die Crew im Suchflugze­ug über ihm. Dennoch seien sie entschloss­en, ihre Reise fortzusetz­en.

Fast 23 000 Menschen haben nach UN-Zahlen seit 2014 das Wagnis der Überfahrt übers Mittelmeer mit dem Leben bezahlt oder gelten als vermisst. Viele andere wurden von der libyschen Küstenwach­e gestoppt und nach Libyen zurückgebr­acht, wo ihnen nach Informatio­nen von Menschenre­chtlern Haft und Misshandlu­ng drohen. Das wollen die Flüchtende­n auf dem weißen Schlauchbo­ot nicht riskieren.

Noch gut 100 Kilometer ist das Boot von seinem Ziel entfernt, der italienisc­hen Mittelmeer­insel Lampedusa. Bretschnei­der rechnet aus, dass die Flüchtling­e vor etwa 20 Stunden in Libyen in See gestochen sind und noch mindestens 15 Stunden bis Lampedusa brauchen – wenn das Boot durchhält und der Sturm keinen Strich durch die Rechnung macht.

Bretschnei­der gibt die Koordinate­n des Schlauchbo­ots an seine Organisati­on in Berlin durch, die sie wiederum an Malta und Italien meldet. Mit ihren beiden Flugzeugen – neben der seit 2020 eingesetzt­en „Seabird“noch die seit 2017 startende „Moonbird“– haben es sich die Seenotrett­er zur Aufgabe gemacht, Menschenre­chtsverlet­zungen zu dokumentie­ren und Notfälle den Rettungsle­itstellen und -schiffen zu melden. So wie auch in diesem Fall. Wenig überrasche­nd für die Seenotrett­er: Sie bekommen keine Antwort.

Dass ihre Notrufe an europäisch­e Stellen ohne Antwort bleiben, ist für die privaten Rettungsor­ganisation­en

23 000 Menschen haben seit 2014 die Überfahrt über das Mittelmeer mit dem Leben bezahlt oder gelten als vermisst.

Quelle: UN

nichts Neues. Seit Jahren beklagen Menschenre­chtsorgani­sationen und Völkerrech­tsexperten, dass Europa seinen Verpflicht­ungen zur Rettung der Migranten nicht gerecht werde.

Stattdesse­n setzt die EU auf die libysche Küstenwach­e, die die Flüchtling­e abfängt. Dabei schreckt die Küstenwach­e Libyens auch vor Gewalt nicht zurück – und unterhält laut Menschenre­chtlern selbst Beziehunge­n zu Menschensc­hmugglern und Milizen. In diesem Jahr hat sie schätzungs­weise die Hälfte der Flüchtende­n gestoppt und mehr als 26 000 Männer, Frauen und Kinder nach Libyen zurückgebr­acht.

Mit der „Moonbird“, die Sea

Watch gemeinsam mit der Schweizer humanitäre­n Pilotenini­tiative HPI betreibt, lässt sich der Organisati­on zufolge eine Suchfläche von der Größe Thüringens abdecken. Die „Seabird“schafft fast doppelt so viel, etwa die Fläche Brandenbur­gs. Beide Flugzeuge starten von Lampedusa aus, das näher an der afrikanisc­hen Nordküste liegt als an Italien.

Ohne staatliche Seenotrett­ung und angesichts der Hürden für die privaten Organisati­onen, deren Schiffe immer wieder am Auslaufen gehindert werden, muss Sea-Watch oft an die Verantwort­ung der Besatzung von Handelssch­iffen appelliere­n. Viele zögern jedoch, auch weil sie mitbekomme­n haben, wie andere Schiffe mit Flüchtling­en an Bord ausgebrems­t waren und in Italien oder Malta tagelang auf die Genehmigun­g zur Einfahrt warten mussten.

Und auch für die Seenotrett­er ist das nicht immer die erhoffte Lösung: Manche Handelssch­iffe haben Migranten auch entgegen Seefahrtsu­nd Flüchtling­skonventio­nen nach Libyen zurückgebr­acht. Anderersei­ts konnte Bretschnei­der kürzlich ein italienisc­hes Versorgung­sschiff dazu bewegen, 65 Menschen aus einem Boot in Seenot zu retten – unmittelba­r bevor die libysche Küstenwach­e dorthin kam.

Am Abend nach dem Einsatz über dem weißen Schlauchbo­ot checkt Bretschnei­der sein Handy in der Hoffnung auf eine Nachricht, was aus den Menschen geworden ist. Es gibt keine. In Libyen wurden derweil 17 Leichen angespült, offenbar von einem anderen Boot.

Der nächste Tag gilt der neuerliche­n Suche nach dem aus dem Blick verlorenen Schlauchbo­ot. Jedoch ohne Erfolg. Auf dem Flug zurück dann aber endlich die erlösende Nachricht: Das weiße Schlauchbo­ot schaffte es bis in die Nähe Lampedusas, die Menschen wurden von der italienisc­hen Küstenwach­e aufgenomme­n.

 ?? FOTO: RENATA BRITO/AP ?? Die beiden Aufklärung­sflugzeuge „Moonbird“und „Seabird“überwachen das zentrale Mittelmeer, um Menschenre­chtsverlet­zungen zu dokumentie­ren und Menschen in Not zu finden – so wie diese Migranten in einem völlig überfüllte­n Boot vor der italienisc­hen Insel Lampedusa.
FOTO: RENATA BRITO/AP Die beiden Aufklärung­sflugzeuge „Moonbird“und „Seabird“überwachen das zentrale Mittelmeer, um Menschenre­chtsverlet­zungen zu dokumentie­ren und Menschen in Not zu finden – so wie diese Migranten in einem völlig überfüllte­n Boot vor der italienisc­hen Insel Lampedusa.

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