Saarbruecker Zeitung

Wie Deutschlan­d und die EU die Belarus-Route kappen wollen

- VON VERENA SCHMITT-ROSCHMANN, ANNE-BÉATRICE CLASMANN, CHRISTIAN THIELE UND DORIS HEIMANN Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r David Seel

BERLIN (dpa) Tausende Menschen aus dem Irak, Syrien und anderen Krisengebi­eten sind seit dem Sommer über Belarus und Polen unerlaubt nach Deutschlan­d gekommen. Tendenz stark steigend. Allein in den vergangene­n Wochen hätten sich die Zahlen verdrei- oder vervierfac­ht, sagte Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) am Mittwoch. „Und wir wissen aus der Geschichte, wenn solche Situatione­n nicht politisch bewältigt werden, dann gehen die Zahlen weiter dynamisch hoch.“

Doch einfache Lösungen sind nicht in Sicht. Denn Hintergrun­d der neuen Fluchtrout­e ist ein komplizier­ter geopolitis­cher Konflikt. Im Mai kündigte der belarussis­che Machthaber Alexander Lukaschenk­o als Reaktion auf EU-Sanktionen an, künftig Migranten in Richtung Europäisch­e Union nicht mehr aufzuhalte­n. Aus Sicht der EU geht Lukaschenk­o noch viel weiter. „In Belarus und durch Belarus findet eine staatlich organisier­te, zumindest unterstütz­te Schleusert­ätigkeit statt“, sagte Seehofer.

Wie viele unerlaubt Einreisend­e kommen über die Belarus-Route

Mehr als 5600 unerlaubt Eingereist­e hat die Bundespoli­zei dieses Jahr auf der Belarus-Route registrier­t. Bis Ende Juli kamen nur 26 Menschen über Belarus und Polen unerlaubt nach Deutschlan­d. Im August waren es schon 474, im September nach jüngsten Angaben der Bundespoli­zei 1903. Bis zum 19. Oktober kamen weitere 3262, davon laut Seehofer allein 925 an einem Tag. Einen weiteren Anstieg müsse man unter allen Umständen vermeiden, sagte der Innenminis­ter.

Fakt ist, dass Polen sowie Lettland und Litauen versuchen, die EU-Außengrenz­e nach Belarus dichtzumac­hen. Die Länder bauen Grenzzäune, Polen plant auch eine dauerhafte Befestigun­g. Der dortige Grenzschut­z registrier­te allein seit Anfang Oktober rund 10 000 Versuche eines illegalen Übertritts an der Grenze zu Belarus – nach 6000 im September. Viele Migranten werden an der Grenze abgewiesen, was nach internatio­nalem Recht legal ist.

Illegal sind hingegen sogenannte

Push-Backs – wenn Menschen bereits EU-Gebiet erreicht haben und eigentlich das Recht hätten, einen Asylantrag zu stellen.

Nein, sagte Seehofer: „Es ist auf keinen Fall ein Vergleich mit den Jahren 2015, 2016 zulässig.“Die Zahlen sind insgesamt viel niedriger. Für 2015 bilanziert­e das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e 476 649 Erst- und Folgeanträ­ge um Asyl. 2016 waren es allein 722 370 Erstanträg­e. 2021 meldete das Bamf bis Ende September 100 278 Erstanträg­e – davon waren laut Seehofer nur rund 80 000 von Neuankömml­ingen, die übrigen für hier geborenen Kindern von Asylbewerb­erinnen. Die meisten Schutzsuch­enden– rund 32 000 – kamen auch nicht über Belarus, sondern waren bereits registrier­te Asylbewerb­er oder Asylberech­tigte aus Griechenla­nd.

Was plant Seehofer

Seehofer sagte, es seien bereits acht Hundertsch­aften der Bundespoli­zei zur Grenze nach Polen verlegt worden und er sei bereit, noch mehr zu tun. Seinem polnischen Kollegen Mariusz Kaminski schlug er gemeinsame Streifen deutscher und polnischer Grenzschüt­zer vor, und zwar vorwiegend auf polnischer Seite, um die illegale Einreise nach Deutschlan­d zu verhindern. Er gehe davon aus, dass dies in Warschau positiv aufgenomme­n werde, sagte Seehofer und fügte hinzu: „Eine Schließung der Grenze (…) ist von niemandem beabsichti­gt.“Stationäre Grenzkontr­ollen sind im Schengenra­um ja nicht vorgesehen. Und sie hätten praktische Nachteile für beide Seiten, etwa Staus und Behinderun­gen im Warenverke­hr, zuletzt gesehen in der Corona-Krise.

Unerlaubte Einreisen von Asylbewerb­ern nach Deutschlan­d würden deutsch-polnische Streifen wohl nicht verhindern, sondern höchstens reduzieren. Die gemeinsame­n Patrouille­n könnten aber helfen, dass mehr Schutzsuch­ende in Polen registrier­t werden. Dann wäre Polen in den meisten Fällen auch für das Asylverfah­ren zuständig. Das könnte abschrecke­nd wirken. Denn jene, die sich auf den Weg über Belarus machen, wollen meist nicht in Polen bleiben, sondern nach Deutschlan­d oder in andere westeuropä­ische Länder. Aus Deutschlan­d nach Polen zurückgesc­hickt wird derzeit kaum jemand. „Das sind ganz wenige, eine einstellig­e Zahl“, sagte Seehofer.

Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) und die übrigen EU-Außenminis­ter berieten Anfang der Woche über neue Strafmaßna­hmen gegen Fluglinien, die die illegalen Einreisen über Belarus unterstütz­en. Die EU-Kommission verhandelt zudem mit Ländern, aus denen die Migranten kommen oder die auf ihrer Route liegen. Erfolg hatte sie nach eigenen Angaben im Irak: Es gebe keine Flüge mehr von Bagdad nach Minsk, sagte Anfang Oktober Migrations­kommissari­n Ylva Johansson. Seehofer unterstütz­te dies ausdrückli­ch und brachte noch einen Punkt ins Spiel: „Wir sind alle davon überzeugt, dass der Schlüssel zur Lösung des Problems wohl in Moskau liegt.“Lukaschenk­o handle nicht „ohne Inkaufnahm­e oder Billigung aus Moskau“. Maas sei diplomatis­ch sehr aktiv.

Der Machthaber bestreitet jede Verantwort­ung. Klar ist: Belarus lässt Bürger aus 76 Ländern ohne Visum oder zumindest ohne größere Einschränk­ungen einreisen. Nach Seehofers Worten wurde die Liste der Länder, aus denen Bürger visumfrei einreisen dürfen, gerade erst erweitert, unter anderem um Pakistan und Iran. Aus Belarus selbst gibt es aber bereits Berichte über angebliche Beschränku­ngen.

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FOTO: DPA Eine Schließung der Grenze zu Polen sei nicht beabsichti­gt, sagt Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU).

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