Wie Deutschland und die EU die Belarus-Route kappen wollen
BERLIN (dpa) Tausende Menschen aus dem Irak, Syrien und anderen Krisengebieten sind seit dem Sommer über Belarus und Polen unerlaubt nach Deutschland gekommen. Tendenz stark steigend. Allein in den vergangenen Wochen hätten sich die Zahlen verdrei- oder vervierfacht, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am Mittwoch. „Und wir wissen aus der Geschichte, wenn solche Situationen nicht politisch bewältigt werden, dann gehen die Zahlen weiter dynamisch hoch.“
Doch einfache Lösungen sind nicht in Sicht. Denn Hintergrund der neuen Fluchtroute ist ein komplizierter geopolitischer Konflikt. Im Mai kündigte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko als Reaktion auf EU-Sanktionen an, künftig Migranten in Richtung Europäische Union nicht mehr aufzuhalten. Aus Sicht der EU geht Lukaschenko noch viel weiter. „In Belarus und durch Belarus findet eine staatlich organisierte, zumindest unterstützte Schleusertätigkeit statt“, sagte Seehofer.
Wie viele unerlaubt Einreisende kommen über die Belarus-Route
Mehr als 5600 unerlaubt Eingereiste hat die Bundespolizei dieses Jahr auf der Belarus-Route registriert. Bis Ende Juli kamen nur 26 Menschen über Belarus und Polen unerlaubt nach Deutschland. Im August waren es schon 474, im September nach jüngsten Angaben der Bundespolizei 1903. Bis zum 19. Oktober kamen weitere 3262, davon laut Seehofer allein 925 an einem Tag. Einen weiteren Anstieg müsse man unter allen Umständen vermeiden, sagte der Innenminister.
Fakt ist, dass Polen sowie Lettland und Litauen versuchen, die EU-Außengrenze nach Belarus dichtzumachen. Die Länder bauen Grenzzäune, Polen plant auch eine dauerhafte Befestigung. Der dortige Grenzschutz registrierte allein seit Anfang Oktober rund 10 000 Versuche eines illegalen Übertritts an der Grenze zu Belarus – nach 6000 im September. Viele Migranten werden an der Grenze abgewiesen, was nach internationalem Recht legal ist.
Illegal sind hingegen sogenannte
Push-Backs – wenn Menschen bereits EU-Gebiet erreicht haben und eigentlich das Recht hätten, einen Asylantrag zu stellen.
Nein, sagte Seehofer: „Es ist auf keinen Fall ein Vergleich mit den Jahren 2015, 2016 zulässig.“Die Zahlen sind insgesamt viel niedriger. Für 2015 bilanzierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 476 649 Erst- und Folgeanträge um Asyl. 2016 waren es allein 722 370 Erstanträge. 2021 meldete das Bamf bis Ende September 100 278 Erstanträge – davon waren laut Seehofer nur rund 80 000 von Neuankömmlingen, die übrigen für hier geborenen Kindern von Asylbewerberinnen. Die meisten Schutzsuchenden– rund 32 000 – kamen auch nicht über Belarus, sondern waren bereits registrierte Asylbewerber oder Asylberechtigte aus Griechenland.
Was plant Seehofer
Seehofer sagte, es seien bereits acht Hundertschaften der Bundespolizei zur Grenze nach Polen verlegt worden und er sei bereit, noch mehr zu tun. Seinem polnischen Kollegen Mariusz Kaminski schlug er gemeinsame Streifen deutscher und polnischer Grenzschützer vor, und zwar vorwiegend auf polnischer Seite, um die illegale Einreise nach Deutschland zu verhindern. Er gehe davon aus, dass dies in Warschau positiv aufgenommen werde, sagte Seehofer und fügte hinzu: „Eine Schließung der Grenze (…) ist von niemandem beabsichtigt.“Stationäre Grenzkontrollen sind im Schengenraum ja nicht vorgesehen. Und sie hätten praktische Nachteile für beide Seiten, etwa Staus und Behinderungen im Warenverkehr, zuletzt gesehen in der Corona-Krise.
Unerlaubte Einreisen von Asylbewerbern nach Deutschland würden deutsch-polnische Streifen wohl nicht verhindern, sondern höchstens reduzieren. Die gemeinsamen Patrouillen könnten aber helfen, dass mehr Schutzsuchende in Polen registriert werden. Dann wäre Polen in den meisten Fällen auch für das Asylverfahren zuständig. Das könnte abschreckend wirken. Denn jene, die sich auf den Weg über Belarus machen, wollen meist nicht in Polen bleiben, sondern nach Deutschland oder in andere westeuropäische Länder. Aus Deutschland nach Polen zurückgeschickt wird derzeit kaum jemand. „Das sind ganz wenige, eine einstellige Zahl“, sagte Seehofer.
Außenminister Heiko Maas (SPD) und die übrigen EU-Außenminister berieten Anfang der Woche über neue Strafmaßnahmen gegen Fluglinien, die die illegalen Einreisen über Belarus unterstützen. Die EU-Kommission verhandelt zudem mit Ländern, aus denen die Migranten kommen oder die auf ihrer Route liegen. Erfolg hatte sie nach eigenen Angaben im Irak: Es gebe keine Flüge mehr von Bagdad nach Minsk, sagte Anfang Oktober Migrationskommissarin Ylva Johansson. Seehofer unterstützte dies ausdrücklich und brachte noch einen Punkt ins Spiel: „Wir sind alle davon überzeugt, dass der Schlüssel zur Lösung des Problems wohl in Moskau liegt.“Lukaschenko handle nicht „ohne Inkaufnahme oder Billigung aus Moskau“. Maas sei diplomatisch sehr aktiv.
Der Machthaber bestreitet jede Verantwortung. Klar ist: Belarus lässt Bürger aus 76 Ländern ohne Visum oder zumindest ohne größere Einschränkungen einreisen. Nach Seehofers Worten wurde die Liste der Länder, aus denen Bürger visumfrei einreisen dürfen, gerade erst erweitert, unter anderem um Pakistan und Iran. Aus Belarus selbst gibt es aber bereits Berichte über angebliche Beschränkungen.